Einmal drängte Gibson Wells, der Gründer und Eigentümer des allmächtigen Onlinehändlers Cloud, einen Produzenten, er möge seine Gurkerln doch von fünf Dollar pro Glas auf zwei Dollar hinunterkalkulieren, damit er sie weiter über seine Plattform vertreiben und mittels Drohnen in die Welt hinausliefern könne. Als der sich weigerte, warf er ihn aus dem Sortiment und produzierte Essiggurken fortan einfach selbst. Der Journalist James Bloodworth nennt das in seinem sehr lesenswerten Bericht Hired: Six Months Undercover in Low-Wage Britain die "the-boss-takes-all-economy". In Rob Harts packendem Roman Der Store aber soll alles Fiction sein. Oder doch nicht?

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Der Onlinehändler Cloud beliefert die Konsumenten mittels Drohne.
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Der Zynismus, mit dem Gibson Wells die Entstehung seiner absoluten Marktmacht beschreibt, ist erschreckend: "Cloud zu erschaffen war so, wie wenn man ein Omelett zubereitet. Anders gesagt: Dabei mussten ein paar Eier zerbrochen werden." Viele zerbrochene Eier brachten ihm schließlich ein Vermögen von exakt 304,9 Milliarden Dollar ein. Der somit reichste Mann der Welt ist außerdem glücklich verheiratet mit Molly, und gemeinsam haben sie eine Tochter Claire.

Diese muss Wells im Laufe der Handlung aber frühzeitig als seine Nachfolgerin installieren, denn er hat Bauchspeicheldrüsenkrebs und wird bald sterben. Mit diesem speziellen Leiden erinnert er uns an Apple-Gründer Steve Jobs und mit seiner Begeisterung für den Weltraum an Jeff Bezos, den Chef des Onlinekraken Amazon. Rob Hart schrieb früher für Krimi-Massenwarenproduzent James Patterson, da werden Figuren nicht mit dem Fineliner gezeichnet.

Zuckerbrot und Peitsche

Gibson wendet sich nun über seinen Blog an die Mitarbeiter, die er – immer schwächer werdend – auch in ihren Mother-Clouds besucht: kleinen Städten, in denen seine 30 Millionen Beschäftigten wohnen und arbeiten. Abgeschottet von einem ungemütlichen "Draußen" in einem scheinbar beschützten "Innen".

Dort tragen sie eine Uhr um ihr Handgelenk, die sie nicht nur symbolisch zum dauerüberwachten Quasi-Eigentum von Wells macht (Peitsche), sondern mit der sie auch alles bestellen und bezahlen können (Zuckerbrot). Und über die in Echtzeit ihr Rating im Unternehmen angezeigt wird: "Wenn man 30 Millionen managen muss, braucht man ein System", schreibt er. Er macht es mit den Bewertungssternchen, die wir von Amazon kennen.

Die "Sammler", die im riesigen Warenlager mit kilometerlangen Gängen Produkte suchen, aufs Band legen und dabei gehörig strampeln müssen, um im "grünen Bereich" zu bleiben, tragen rote Shirts wie Zinnia. Die ausgebildete Kampfsportlerin und Industriespionin will für ihren Auftraggeber "in das System" von Cloud eindringen und soll das Rätsel, wie sich das Riesenunternehmen mit Energie versorgt, lösen.

Die bei der Security arbeiten, tragen blaue Shirts wie Paxton, der in seinem früheren Leben in einem Gefängnis gearbeitet hat. Noch früher wurde freilich auch seine eigene Firma von Cloud plattgemacht. Anfangs träumt er noch davon, Wells irgendwann seine Meinung ins Gesicht zu sagen, fühlt sich aber zunehmend wohler im beschützten "Inneren". Und wie auch nicht? "Cloud ist die Lösung für alle Bedürfnisse", heißt es in den zahlreichen Gehirnwäschespots, die ständig irgendwo laufen. Auch der Journalist Bloodworth entdeckte in seiner realen Amazon-Welt überall aufmunternde Sprüche: "We love coming to work and miss it when we are not here."

Schrei der Verzweiflung

Paxton fängt an, Sterne zu sammeln, und verliebt sich dabei natürlich in Zinnia. Der Thriller-Plot gerät Hart leider ohne wirkliche Spannung, denn siehe da: Ein Software-Update hat nicht funktioniert! Zinnia braucht ihre Uhr also gar nicht, um ins Herz der Finsternis vorzudringen, und auf dem Weg dorthin entdeckt sie in der Recyclinganlage sogar, woraus die scheinbar so leckeren Cloud-Burger gemacht werden.

Rob Hart, "Der Store". Aus dem Amerikanischen von Bernhard Kleinschmidt. € 22,70 / 592 Seiten. Heyne-Verlag, 2019
Foto: Heyne-Verlag

Rekrutiert werden die Mitarbeiter mittels Aufnahmetest ("Wenn Ihre Familie hungern würde, würden Sie dann einen Laib Brot für sie stehlen?") und DNA-Probe. Viermal im Jahr gibt es "Bilanztag", dann wird aussortiert. Wer im Sternerating abgesackt ist, der kriegt über seine Uhr die Fristlose. In der Welt draußen werden diese Leute keinen Job mehr kriegen, was herinnen zu großen Dramen führt: "Ganz in der Nähe sank eine Frau auf die Knie und stieß einen Schrei der Verzweiflung aus", heißt es. Andere werfen sich vor den Zug, der sie aus der Cloud hinausbringen soll.

"Die Medien", die darüber berichten könnten, sind "vor Jahren zusammengebrochen", weil sie natürlich nur Fake-News über Cloud verbreitet haben. Darum hat Wells auch gleich das Cloud-News-Network gegründet, es produziert News wie Essiggurkerln. Das Network zeigt in Dauerschleife beängstigende Bilder von "draußen": Grenzübergänge in Europa; Polizisten in Kampfausrüstung; Flüchtlinge aus Kairo oder Abu Dhabi – Städten, die durch die "Temperaturschwankungen" unbewohnbar geworden sind. Das alles ist "ziemlich deprimierend". Gute Laune verspricht allenfalls das noch einmal um zwei Millimeter dünnere Cloud-Phone.

"Deprimierend" ist vielleicht das richtige Wort für die Lektüre dieses in kleine, gut lesbare Häppchen aufbereitete Buch. Weil es als Fiktion eine zukünftige Welt entwirft, die der realen nicht mehr allzu weit voraus ist. Packend ist dabei nicht so sehr die Handlung, sondern der überaus deprimierende Inhalt: Was machen wir, wenn uns demnächst wirklich einer alleine mit seiner Marktmacht beherrscht? (Manfred Rebhandl, 19.10.2019)