1832 tauchte die Bezeichnung "Mediziner der Schule" erstmals auf. Samuel Hahnemann, der Begründer der Homöopathie, bezeichnete damit abfällig Ärzte, die seiner Theorie nicht folgen wollten. Ironie der Geschichte: Die Lehre Hahnemanns ist exakt das, was man unter einer "Schule" versteht.  Eine Schule, die 200 Jahre lang unverändert auf Thesen beharrt, die im Lichte der Wissenschaft von heute das Theorie-Niveau von Flat-Earth-Anhängern nicht übertreffen. 

Fortschritte in der Medizin waren den Nazis suspekt

Das von Homöopathen geprägte Wort Schulmedizin erhielt durch den Nationalsozialismus einen neuen und durchaus nachhaltigen Drive. In den Jahrzehnten, in denen die Nationalsozialisten ihre rassistischen Ideen spannen, gelangen der medizinischen Forschung bahnbrechende Entwicklungen.

Paul Ehrlichs erste medikamentöse Behandlung von Syphilis im Jahr 1909 war der Grundstein für Chemotherapien. 1923 wurde der erste Impfstoff gegen Diphterie entwickelt. Die Entdeckung des Penicillins durch Alexander Fleming in den späten 20er-Jahren kam ein gutes Jahrzehnt zu spät – es hätte in den Lazaretten des Ersten Weltkriegs hunderttausenden Verwundeten das Leben gerettet.

Der Blut- und Boden-Ideologie arbeitete die Medizin allerdings in keiner Weise in die Hände. Adolf Hitler spitzte bereits in der Unterstufe eines Linzer Gymnasiums seinen Bleistift, als Karl Landsteiner 1901 das System der Blutgruppen entdeckte. Er hätte damals dem jungen Hitler ins Ohr flüstern können: "Du hast Blutgruppe A. Wenn Du einmal eine Bluttransfusion brauchst: Das Blut vom Rabbi aus Lemberg mit Blutgruppe 0, das verträgst Du, am Blut des deutschen Volksgenossen mit Blutgruppe B, daran wirst du sterben." 

Viren und Bakterien ist die Nation gleichgültig 

Die Entwicklungen und Entdeckungen jener Zeit hatten das Potenzial, der gesamten Menschheit von Nutzen zu sein. Bakterien und Viren scheren sich einen Dreck um die Nation des Körpers, in dem sie sich ausbreiten und das Blut kennt keine Rasse. Das gefällt "Rassehygienikern" natürlich nicht. Die erwarteten zudem etwas anderes von einer Heilkunde: Forschung für den "Volkskörper" und nicht für das Individuum, eine "Gesundheitsführung", die der eigenen "Rasse" zugute zu kommen hat.

Die wissenschaftliche Medizin stand unter den Nationalsozialisten als "verjudete Schulmedizin" am Pranger. Konnte kein Jude als Hintermann einer Entwicklung ausfindig gemacht werden, tat es auch der Begriff "marxistische Schulmedizin", um die aus der Sicht der Nazis nivellierende Heilkunde und sozialmedizinische Ansätze zu diskreditieren.

Nazis hatten ein Faible für Alternativmedizin

Die Nazis entwickelten ein Faible für Alternativmedizin. 1933 verkündete Reichsärzteführer Gerhard Wagner im "Deutschen Ärzteblatt" deren "häufige Überlegenheit" gegenüber der Schulmedizin. Der deutsche Arzt und Autor Erwin Liek – ein glühender Anhänger von Euthanasie und Eugenik – brachte das Credo der willfährigen Mediziner seiner Zeit auf den Punkt: "Es ist mein Glaube, dass das deutsche Volk berufen ist, nach und nach eine ganz neue, rein deutsche Heilkunst zu entwickeln." In dieser sollten "das Heilwissen der Heilpraktiker und das Heilwissen der Schulmediziner eine neue Synthese" eingehen. 

Nazis und Homöpathie? Die zwei Parteien waren sich näher als man denkt.
Foto:AP Photo/Natacha Pisarenko

Das kommt jedem, der mit Freunden der "Alternativmedizin" ab und an diskutiert, sehr vertraut vor. Sich das beste von "Schulmedizin" zu holen und das beste von der "Alternativmedizin", das ist das Mantra der Esoterik-Beseelten, wenn man diskret darauf hinweist, dass die neue Hüfte für die Großmutter wohl ausschließlich der kalten "Apparate- und Schulmedizin" zu verdanken ist. Der Begriff Schulmedizin kommt heute ohne den Zusatz "verjudet" aus, pejorativ verwendet wird das Wort dennoch.

Was schwingt mit an Antisemitismus beim Begriff "Schulmedizin"?

Hat das Wort "Schulmedizin", wenn es von Homöopathiefreunden, anthroposophischen Ärzten, Schüsslersalz-Anwendern und der sprichwörtlichen Anti-Vax-Mom aus dem Boboviertel verwendet wird, mit der Diktion einer "verjudeten Schulmedizin" der Nationalsozialisten etwas gemein? Zweifelsohne – und ohne den Genannten eine bewusst gemeinsame Ideologie zu unterstellen: Die Feindseligkeit gegenüber der Wissenschaftlichkeit und die Nonchalance gegenüber Fakten sind gemeinsame Nenner.

Eine bizarre Fußnote des braunen Wissenschaftsverständnisses macht das deutlich: Die Nazis hatten tatsächlich auch Vorbehalte gegen die "Schulphysik". Der "jüdischen Relativitätstheorie" Albert Einsteins wollte man eine "arische Physik" entgegen, die auf dem "unverbildeten deutschen Volksgeist" beruhen sollte. Wer heute Einstein in Frage stellt oder auch nur das Wort "Schulphysik" verwendet, wird wohl bei jedem Frühschoppen dieser Welt aus der Gaststube gelacht. Wer heute Zuckerkugeln ohne Inhaltsstoffe als Medizin verkauft, entspricht zwar einigermaßen gut dem "unverbildeten Geist", den die Nazis ersehnten, erfreut sich aber dennoch treuer Claqueure. Nach wie vor stehen Ärzte wie der Grazer Mediziner Klaus Bielau auf der Ärzteliste der Ärztekammer, der ernsthaft behauptet, dass es "die Theorie der  Ansteckungen durch Viren aus ganzheitsmedizinischer Sicht" nicht gibt. 

Impfgegner sind der "bewaffnete Arm" der Alternativmedizin

Bielau ist – und das ist bezeichnend – überzeugter Impfgegner. Dieses Soziotop stellt – im übertragenen Sinn – so etwas wie den "bewaffneten Arm der Alternativmedizin" dar. Die Schnittpunkte der Seuchenfreunde mit der rechten Szene sind bestens dokumentiert. Impfgegner aus alternativen, grünen und veganen Milieus reagieren in der Regel verschnupft bis empört, wenn sie auf diese Geistesverwandtschaft angesprochen werden. Allerdings gedeiht die Attitüde der Seuchenfreunde nicht im ideologischen Vakuum. Die sprichwörtliche Anti-Vax-Mom der Gegenwart, die ihr Kind mit keinem "Giftcocktail" von "Big Pharma" "vollspritzen lassen" will, die stand schon 1933 Modell – in einem Sonderdruck des Nazi-Hetzblatts "Stürmer". Die Anti-Vax-Mom der Nazis ist blond und hält ein deutsches Baby am Arm. Der "naturferne und verirrte Mediziner" hat eine Spritze in der Hand und eine Hakennase. Der Stürmer legt der Frau die Worte in den Mund: "So ist mir sonderbar zumut – Gift und Jud tut selten gut."

Illustration aus dem Stürmer: "Verjudete Schulmedizin" am Pranger.
Foto: Psiram

Impfungen gegen ansteckende Krankheiten sind Medizin und Signal zugleich: Der "Untermensch" schützt den "Arier" und vice versa, der Starke und Gesunde übt sich in Solidarität gegenüber dem Schwachen und Vulnerablen. Der Herdenschutz ist den Nazis suspekt, weil die Herde weitaus größer ist als das, was er als eigenes "Volk" sieht. Der Rechte wünscht sich die Auslese der Lebensunwerten durch die Natur, was uns nicht umbringt macht uns stärker. Das vulgär-darwinistische Denken hat überdauert. Wer heute in "impfkritischen" Foren Diskussionen verfolgt, wird das entlang zweier Phänomene beobachten: Zynismus gegenüber Kranken und Verklärung von Krankheit.

Die Natur sortiert Schwache aus – das gefällt Impfgegnern

Maserntote von heute sind nicht etwa Opfer der Impfmüdigkeit. Sie hätten – Impfungen hin oder her – ohnehin eine zu "schwache Konstitution." Mit anderen Worten: Die Natur putzt aus, die Schwachen bleiben zurück. Die Krankheiten der eigenen Kinder werden als Stahlbad eines natürlichen Erwachsenwerdens verklärt, mitunter mit bizarren Vergleichen. Die von der Anthroposophie begeisterte Schauspielerin Sara Koenen vergleicht die Masern ihrer Kinder in einem Aufsatz mit einer Bergtour. "Wir feiern die gesunde Wiederkehr von der großen Masern-Bergtour." Während der Masern musste eines ihrer Kinder mit Fieberschüben jenseits der 40 Grad übrigens im Krankenhaus versorgt werden. Trotzdem schwärmt Koenen rückblickend: "Mit Ehrfurcht erfüllt mich der Berg. Manche sind umgekehrt. Manche haben es nicht geschafft." Das sind die Schwachen, und das ist damals wie heute offenbar gar nicht so schlecht. 

Impfungen und Chemotherapien sind "Holocaust an den Deutschen"

Ganz offen antisemitisch argumentieren heute die Anhänger der "Neuen Germanische Medizin". Die Juden – so das geschmacksbefreite Narrativ dieser Esoterik-Sekte – würden mit Impfungen und Chemotherapien einen "Holocaust am Deutschen Volk" begehen. Bei sich selbst und in Israel hüteten die Juden sich vor dem Teufelszeug. Die "Neue Germanische Medizin" mag eine alternativmedizinische Randgruppe mit zahlenmäßig relativ wenigen Anhängern sein. Die Lehre des 2017 verstorbenen Gurus Ryke Geerd Hamer wird allerdings auch von "gemäßigten" Alternativmedizinern wohlwollend zitiert. Der Autor Rüdiger Dahlke schreibt, dass seine "Krankheitsdeutungen" zu "drei Viertel" mit Hamers Thesen übereinstimmen. Dahlke ist nicht irgendjemand. Er ist Bestsellerautor und hat sich mit flachen Metaphern zu schweren Krankheiten einen Namen gemacht – je nach Sichtweise – als Doyen alternativmedizinischer Weisheit oder als banaler Kalauer-Mediziner. Männern, die an Prostatakrebs erkranken, attestiert er zum Beispiel pauschal, im Vorfeld "zu wenig Liebesfeste gefeiert zu haben." Der Schulmedizin empfiehlt Dahlke generös eine "vorbehaltlose Überprüfung der Thesen Hamers." Wir empfehlen, das Wort "Schulmedizin" auf dem Misthaufen der Geschichte zu entsorgen. (Christian Kreil, 14.11.2019)

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