Die Gerontologin Sonja Schiff fordert in ihrem Gastkommentar endlich schlüssige Pflegekonzepte von der Politik.

Seit bald drei Jahrzehnten wissen wir, dass unsere Gesellschaft altert und wir vor großen Herausforderungen stehen. Eine Facette dabei: die steigende Anzahl pflegebedürftiger Menschen.

Schon viele Jahre wären hierzu politische Visionen gefragt gewesen. Doch bis auf die Einführung des Pflegegeldes 1993 blieben in Österreich richtungsweisende Meilensteine aus. Während viele nordeuropäische Staaten (etwa Dänemark) längst nachhaltige Strategien entwickelt haben, spielt Politik hierzulande immer noch vor allem Feuerwehr. Sie schuf schnelle Lösungen für den Moment (24-Stunden-Betreuung), sah und sieht weg bei drängenden Problemen (Mangel an Pflegepersonal, Rahmenbedingungen der Pflege) und delegiert den größten Teil der Pflegeverantwortung an die Familien, obwohl bekannt ist, dass Familie sich verändert hat und häusliche Pflege direkt in die Armutsfalle führt.

Keine klaren Strategien

Auch jetzt im Wahlkampf 2019 lassen die wahlwerbenden Parteien klare Strategien für die nächsten Jahrzehnte zum Thema Pflege vermissen. Stattdessen will eine ÖVP die Leidensfähigkeit pflegender Angehöriger mit einer mildtätigen jährlichen Gabe von 1500 Euro verlängern, eine FPÖ glaubt, mit der Reduktion von Akutbetten den zunehmenden Pflegebedarf finanzieren zu können, und eine SPÖ fordert mehr qualifizierte mobile Pflege, ohne zu sagen, woher dieses Personal kommen soll in Anbetracht des bereits herrschenden Pflegepersonalmangels.

Zu den Menschen fahren: Eine diplomierte Gesundheits- und Krankenpflegerin der Caritas versorgt einen Patienten in St. Christophen in Niederösterreich.
Foto: APA/HELMUT FOHRINGER

Einen Hauch von strategischem Denken kann man vielleicht der Forderung nach einem Pflegestaatssekretariat entnehmen (FPÖ) und der nach einer staatlichen Pflegegarantie (SPÖ). Aber sonst? Einzelmaßnahmen über Einzelmaßnahmen. Über ihre große Vision lassen uns die wahlwerbenden Parteien im Dunkeln. Dabei gäbe es so viele grundlegende Fragen zu klären.

Wie wird erreicht, dass alte Menschen erst möglichst spät pflegebedürftig werden? Kleiner Hinweis: Bei gleichem Alter sind die Menschen in Dänemark weniger pflegebedürftig als Österreicherinnen und Österreicher. Der Grund: Dänemark setzt nicht auf die Betreuung durch Angehörige, sondern auf Aktivierung durch professionelle Alltagstrainerinnen und -trainer.

Welche Art von Pflege wird angestrebt? Sollen pflegebedürftige (alte) Menschen umfassend als Menschen begleitet oder nur körperlich versorgt werden, also verbunden und gewaschen werden und sich satt und warm fühlen? (Alten-)Pflege als Lebensbegleitung versus körperliche Pflege am Fließband? Welche Pflege sollen Pflegende in Zukunft erbringen, und welche Pflege dürfen die Menschen erwarten – heute, morgen, in den Jahren 2029 und 2045?

Familie als Säule?

Soll die Familie weiterhin die größte Säule der Pflege und Betreuung bleiben, obwohl wir wissen, dass Kinder heute kaum mehr vor Ort bei den Eltern leben, sondern 100, 300 oder gar 1.000 Kilometer entfernt? Müssen sich Töchter bei Pflegebedürftigkeit eines Elternteils weiterhin sagen lassen: "Ja, dann müssen Sie eben aufhören zu arbeiten, wenn die Mutter Sie jetzt braucht"? Oder wird die neue Lebensrealität der Menschen endlich zur Kenntnis genommen und werden Strukturen entwickelt, in denen jeder Mensch Pflege und Betreuung erhält und pflegende Familien Unterstützung und Entlastung?

Wird weiterhin auf so unsichere Versorgungsmodelle gesetzt wie die 24-Stunden-Betreuung? Ein schändliches Konzept der Ausbeutung von Menschen aus Niedriglohnländern und eine Betreuungsform, in der jede alte Frau aufgrund fehlender Sprachkompetenz der Betreuenden zur "Oma" degradiert wird.

Außerdem: Stellt in Zukunft die Solidargemeinschaft Pflege zur Verfügung, oder kommt es zu einer Art Privatisierung des individuellen Pflegeproblems?

Attraktiver Pflegeberuf?

Soll Pflege ein Beruf werden, den viele junge Menschen erlernen wollen, in dem Pflegende begeistert tätig sind und lange verbleiben, weil sie gut bezahlt sind, Sinnstiftung in der Arbeit finden, Anerkennung und vielfältige Beschäftigungsmöglichkeiten bis zum Pensionsantritt? Oder soll Pflege ein Beruf sein mit Fließbandcharakter, geringer Bezahlung, wenig Anerkennung, eine Arbeit an der Grenze zur Ausbeutung, ein Feld, in dem nur Menschen arbeiten, die ihrem inneren Helfersyndrom unreflektiert ausgeliefert sind oder nirgendwo sonst Arbeit finden?

Finanzierung und Struktur

Wie lautet die Vision der Parteien zur Zukunft der Pflege? Welches Bild von Pflege haben sie für die Jahre 2025, 2030 und 2045? Wir Pflegenden, aber auch unsere Gesellschaft, warten darauf, dass endlich ein klares Ziel formuliert wird. Finanzierung, Pflegeorganisation, Pflegestrukturen, zukünftige Aufgabenfelder und dafür notwendige Berufsgruppen, Ausbildungen, notwendige Spezialisierungen (Pflegeprävention, Primary Nurse, Pflegepraxen), Personalschlüssel, Arbeitszeitmodelle, Entlohnung, Karrieremodelle, Fortbildungsinhalte – alles, aber auch wirklich alles hängt von dieser Strategie ab.

Hören Sie endlich auf mit dem permanenten "Klein-Klein"! Wir haben das ewige Warten und auch die leeren Worthülsen satt. Nehmen Sie das Thema Pflege endlich ernst! Nehmen Sie uns endlich ernst! Entwickeln Sie eine Vision! Wir helfen auch gern dabei! (Sonja Schiff, 26.9.2019)