Naturphänomen Teodor Currentzis.

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Klassik heißt gemeinhin: immer wieder dasselbe hören, oft mit interpretatorischen Unterschieden, die kaum der Rede wert sind, und mit wenigen Ausnahmen, wobei manchmal die Absicht, es mutwillig anders zu machen, deutlicher wahrnehmbar wird als der künstlerische Mehrwert. Wie ein Naturphänomen ist Teodor Currentzis in diesen Betrieb eingeschlagen, und jeder Abend mit ihm tut dies erneut. Das kann man mehr oder weniger mögen, kalt lässt es niemanden. Seine durchaus spürbaren (und sichtbaren) Eigenwilligkeiten münden nämlich in unmittelbare Wirkung, die ungeahnte Schneisen zu den Werken selbst eröffnen: in diesem Fall etwa, nur als ein Beispiel, mit dem Herausarbeiten eines unerbittlich pochenden "Leitmotivs".

Nach dem ersten Teil seines Mozart-Da-Ponte-Zyklus im Wiener Konzerthaus mit Le nozze di Figaro mit einer beispiellosen Drastik der emotionalen Triebfedern der Figuren ging es mit Don Giovanni in dieselbe Richtung weiter, mit einem völlig unerhörten Grundton der Düsternis in der Ouvertüre, den das zauberhaft wandelbare Music-Aeterna-Orchester da hervorzauberte.

Sängerische Höhenflüge

Während der folgenden dreieinhalb Stunden ertappte man sich beim Gedanken, ob es nicht besser wäre, Oper nur noch so zu spielen – was bei Licht betrachtet schade wäre, aber für die enorme Wirkung spricht, welche die Regie von Nina Vorobyova ohne Kulissen und Requisiten schuf. Sie braucht nicht mehr als ein Tüchlein, um den Tod des Commendatore (Robert Lloyd) oder den Kleidertausch zwischen Don Giovanni und seinem Diener Leporello zu vergegenwärtigen – in der Reduktion werden Symbole stark.

Sängerisch ist der Abend voller Höhenflüge: Dimitris Tiliakos in der Titelpartie verkörpert mit samtener Stimme das Schmierig-Verlogene des skrupellosen Verführers, dem fast alle Frauen auf den Leim gehen: Donna Elvira (wendig und warm strömend: Federica Lombardi) ebenso wie Zerlina (jugendlich-agil und strahlend: Christina Gansch). Mit Humor und Groll ist Kyle Ketelsen ein emsig parlierender Leporello, Kenneth Tarver ein herzergreifender Don Ottavio, Ruben Drole ein polternder Masetto.

Der Abend klingt nach

Über allen erhebt sich Nadezhda Pavlova als Donna Anna, die makelloses Belcanto, vokale Schönheit und primadonnenhafte Intensität aufbietet. Mindestens ebenso eine Entdeckung wie weiland eine heute weltberühmte Anna-Kollegin. Zuletzt nochmals zwei Überraschungen: Nach der Höllenfahrt, die Mozarts Prager Urfassung beendete, geht Currentzis mit den Sängern ab, um dann mitten im Schlussapplaus das in der Wiener Zweitfassung hinzugefügte Sextett singen zu lassen. Das verblüfft und lässt den eindringlichen Abend noch mehr nachklingen. (Daniel Ender, 9.9.2019)