Wenn die Wahrnehmung von Außengeräuschen nachlässt, produziert das Gehirn ein Phantomgeräusch. Und das äußert sich als Tinnitus.

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Es ist das Jahr 1953. Der Arzt Morris F. Heller und der Neuropsychologe Moe Bergman führen ein Experiment durch, bei dem sie 80 normal hörende Personen für je fünf Minuten in eine schalldichte Kammer bringen und sie bitten, alles zu notieren, was sie hören.

Obwohl es mucksmäuschenstill ist, hören 94 Prozent der Testpersonen ein Rauschen, Piepsen oder Pfeifen. Heller und Bergman schließen daraus, dass bei extremer Stille fast jeder Mensch einen Tinnitus hört.

Ist Stille also gefährlich? "Stille herrscht so lange, bis wir etwas hören, beispielsweise eine Stecknadel, die zu Boden fällt. Das ist trivial, aber wichtig", sagt die deutsche Biologin Marlies Knipper vom Hörforschungszentrum der Universität Tübingen.

Sie ist eine der wenigen, die im deutschsprachigen Raum Tinnitus erforscht. Ihre Theorie für seine Entstehung hat mit Hörfasern im Innenohr zu tun, die dafür zuständig sind, dass wir ganz leise Geräusche hören: "Sie geben ein Signal an das Gehirn, sobald das leiseste Geräusch kommt."

Phantomgeräusch

"Ein gesundes Innenohr ist in Wahrheit kein stiller Ort, es gibt immer ein Grunderregungsmuster und daher einen Einstrom von Impulsen ins Gehirn", sagt Johannes Schobel, Gründer des Tinnituszentrums St. Pölten. Dafür sorgen die Fasern für leise Geräusche. "Wir brauchen einen gewissen Erregungseinstrom von außen, damit das System nicht aus dem Ruder läuft", sagt er. "Sind diese Fasern defekt, verlieren wir im betroffenen Frequenzbereich die Fähigkeit, sehr leise Geräusche gut zu hören", erklärt Knipper.

Stattdessen entsteht dort ein Rauschen des Gehirns, das normalerweise von genau diesen, für Stille verantwortlichen Hörfasern unterdrückt wird. Weniger hörspezifische Signale werden vom Ohr ans Gehirn gesendet, dort lenken die betroffenen Regionen die Aufmerksamkeit auf das Rauschen, und es kommt zu einem Phantomgeräusch, dem Tinnitus.

Genau das könnte in der schalldichten Kammer passieren. Dort gibt es keine leisen Geräusche, kein Grunderregungsmuster. Möglicherweise entstehen so selbst bei gesunden Menschen Geräusche. Für jederfrau und jedermann gibt Knipper aber Entwarnung: Echte Stille gebe es nur in einer schallisolierten Kammer. "Überall sonst auf der Welt haben die Hörfasern für leise Geräusche, selbst in der ruhigsten Umgebung, immer etwas zu tun."

Nichts verstehen

Allerdings gibt es Hinweise darauf, dass die Fasern für die leisen Geräusche mit dem Alter schwächer werden – eine mögliche Erklärung dafür, warum Altersschwerhörigkeit ein häufiger Auslöser von Tinnitus ist. Zudem sind sie möglicherweise besonders anfällig für Stress. Deshalb können auch seelische Kränkungen, Trennungen oder der Verlust einer geliebten Person Ursachen sein, sagt Schobel. Meistens sind es allerdings mehrere Ursachen, die zusammenspielen und Tinnitus erzeugen.

So war es auch bei Gerhard Fida. Der 71-Jährige lebt seit fast 25 Jahren mit einem Tinnitus. Der Tod seines Bruders war ein einschneidendes Erlebnis und der Auslöser. Vor der Behandlung mit einem Hörgerät war der Leidensdruck groß, wie er erzählt. Das Tinnitus-Geräusch hat Stimmen überlagert: "Wenn ich in der Stadt unterwegs war und aus der Ferne einen Bekannten gesehen habe, dachte ich bei mir: 'Oh weh, hoffentlich will der jetzt nicht mit mir reden. Ich verstehe ihn ja nicht.'"

Den Ton, den er hört, beschreibt er, "wie wenn bei einem Reifen die Luft ausgeht – sss". In Gesprächen waren es vor allem hohe Stimmen, die Fida kaum verstehen konnte: "Wenn in einer Gruppe geredet wurde und alle gelacht haben, habe ich mitgelacht. Ich habe aber, ehrlich gesagt, nicht gewusst, warum."

Junge Patienten

Auch ein Hörsturz oder eine Schwerhörigkeit nach einem Rockkonzert können zu dem Ohrgeräusch führen. Verursacher sind mitunter auch Probleme in der Halswirbelsäule und im Kiefergeglenk, sagt Schobel. Er hat auch mit Patienten zu tun, die im Alltag häufig Lärm ausgesetzt sind.

Zudem kommen auch immer mehr junge Patienten in Schobels Praxis, die etwa Stress bei der Arbeit haben. Einer von ihnen ist Mario Kandemir. Der 39-Jährige ist Administrator in einem Elektrofachhandel. Wenn Kunden ein Problem mit einem Produkt haben, versucht er, dieses zu lösen. Diesen Job macht er seit 20 Jahren.

Bis er im Dezember an einem Burnout erkrankte. "Die Arbeit wurde in den letzten Jahren immer mehr, gleichzeitig bin ich Perfektionist", sagt Kandemir. Fühlte er sich müde oder erschöpft, habe er das ignoriert und weitergearbeitet. Auf das Burnout folgte ein Hörsturz mit Übelkeit, Erbrechen und Schwindel. "Seitdem habe ich den Tinnitus im rechten Ohr."

Nachts im Bett

Die häufigste Therapie – und die einzige wissenschaftlich erwiesene – für akuten Tinnitus ist Cortison, sagt Schobel. "Relativ hochdosiert, meistens über acht bis zehn Tage." Auch Kandemir wurde mit Cortison behandelt, zunächst über Infusionen, dann mit Tabletten. Ihm half das nicht.

Der Tinnitus war immer noch da. Ein hoher Ton, der den Alltag für ihn unerträglich machte, wie er erzählt: "Wenn ich versucht habe, mich zu konzentrieren, beispielsweise Zeitung zu lesen, war das unmöglich. Ich konnte nicht einschlafen und bin in der Nacht aufgewacht. Untertags habe ich ständig irgendwelche Umgebungsgeräusche gebraucht."

Beim Lesen, beim Einschlafen: Es sind genau diese ruhigen Momente, in denen die meisten Patienten der Tinnitus besonders stört, weiß Schobel. "Deshalb muss man darauf achten, dass sie nicht mit dem Piepton allein sind." Abhilfe können schon spezielle Smartphone-Apps schaffen, die Geräusche erzeugen: Bachplätschern, Vogelgezwitscher, Meeresrauschen. Patienten, die schlecht hören, empfiehlt Schobel ein Hörgerät. Damit werden auch die leisen Geräusche wieder hörbar. "Das holt sie raus aus der stillen Kammer."

Weiches Rauschen

Manche Therapien gehen noch einen Schritt weiter: Patienten bekommen einen sogenannten "Noiser" ins Hörgerät integriert: Er erzeugt ein angenehmes weiches Rauschen. Dieser Ton gleicht den nervigen, hohen Tinnitus aus, sagt Schobel. Bei den meisten Patienten sei die Therapie erfolgreich. Knipper hat eine andere Erklärung parat: "Der Noiser stimuliert die Hörfasern, die für die leisen Geräusche zuständig sind, damit könnten sie erhalten werden."

Nach einer Zeit nehmen Patienten das Rauschen nicht mehr wahr, weil sie sich langsam daran gewöhnen. "Am Anfang hab ich den Noiser nur stundenweise getragen – zwei Stunden, dann wieder zwei Stunden raus", berichtet Kandemir. "Die Dauer habe ich wöchentlich gesteigert, mittlerweile trage ich ihn fast 16 Stunden pro Tag. Ab dem Aufstehen bis zum Ins-Bett-Gehen." Der Tinnitus wurde besser. "Wenn ich den Noiser herausnehme, merke ich schon, dass er noch da ist, aber er ist nicht mehr so schrill."

Eigentlich ist der Noiser eine vorübergehende Therapie, und dennoch, sagt Schobel, habe er Patienten, die ihn noch nach fünf Jahren tragen, das sei eigentlich gar nicht das Ziel, "aber sie sagen, ohne würden sie es nicht aushalten".

Wieder besser hören

Bei Patienten wie Gerhard Fida, die schon viele Jahre an Tinnitus leiden, dauert es länger, bis der Noiser überhaupt Wirkung zeigt. In seinem konkreten Fall war es fast ein Jahr. Viele Patienten springen nach einigen Monaten ab, weil sie keine Erfolge hören. "Aber ich hatte ja nichts zu verlieren", sagt Fida, der sich heute sehr über die Wirkung freut.

Die Lautstärke des Rauschens kann er selbst einstellen, mit der Zeit habe er es immer leiser drehen können. "Obwohl das Rauschen da ist, stört es mich nicht. Und auf einmal höre ich wieder so gut, dass ich manchmal morgens zu meiner Frau sage: 'Du, ich glaube, der Tinnitus ist weg.'"

Die Therapie mit den Noisern – integriert in ein Hörgerät oder allein – ist eine Privatleistung. Der Ersttermin bei Schobel kostet 150 Euro, die Noiser-Therapie pauschal 220 Euro. Die Geräte selbst gibt es ab 1000 Euro. Die Krankenkasse zahlt pro Hörgerät, einen Zuschuss von rund 800 Euro.

Wirkung ohne Evidenz

Auch wenn die Erfahrungen der Patienten zeigen, dass der Noiser etwas bringt, wissenschaftlich ist die Wirksamkeit nicht belegt. Ein Cochrane-Review aus dem Jahr 2018 kommt zu dem Ergebnis, dass Noiser bei Tinnitus nicht besser wirken als herkömmliche Hörgeräte.

Knipper entgegnet der Einschätzung und erklärt, dass diese Aussage im Moment nicht zuverlässig gemacht werden könne: "Dass Studien, die die Wirksamkeit unter Beweis stellen, sehr rar sind, kann viele Ursachen haben." Etwa dass der Noiser nicht optimiert dort stimuliert, wo der Tinnitus sitzt, dass es immer noch kaum Verfahren gibt, die die Wirksamkeit objektiv testen, zu wenig interdisziplinär zusammengearbeitet wird oder dass andere Erkrankungen therapeutische Erfolge verwischen."

Viele Jahre lang gab es kaum Forschung über Tinnitus, das Phänomen wurde nicht verstanden, die Erkrankung galt als mystisch. Wissenschafter waren sich uneins, ob die Ursache im Hörorgan oder im Kopf liegt.

Wieder Blätterrascheln hören

Hinzu kommt, dass ein Tinnitus objektiv sehr schlecht gemessen werden kann. "Bisher antwortet der Tinnitusproband auf die Frage, ob diese oder jene Therapie erfolgreicher war, nach Gefühl", so Knipper. Das erschwere nicht nur die Forschung, sondern auch die Entwicklung neuer Behandlungsverfahren.

Und dennoch gibt es Patienten, für die es funktioniert, wie Mario Kandemir, der mittlerweile wieder arbeiten und halbwegs in Ruhe Zeitung lesen kann. Oder Gerhard Fida: Er erzählt von einem Tag am Fluss, an dem er plötzlich hinter sich ein Rascheln hörte. "Ich bin erschrocken und hab mich schnell umgedreht, weil ich dachte, jemand steht hinter mir." Tatsächlich war es nur der Wind, der die Blätter bewegt hat. "Aber sowas hab ich nicht gekannt, das hab ich wegen des Tinnitus früher alles nicht gehört", erzählt er. (Lisa Breit/Bernadette Redl, CURE, 2.9.2019)