Der Tee ist nicht so bitter wie erwartet. Neben den grün-braunen Brocken schwimmen Ingwer und Zitrone im siedenden Wasser vor sich hin, das verbessert den Geschmack. Das Teeservice steht auf einem kleinen Tablett vor mir, fein säuberlich geordnet wie bei einer Zen-Zeremonie. Die Tasse, das Sieb, die Kanne, ein kleiner Holzlöffel, mit dem man später die Reste herausfischen und essen kann. Alles hat seinen Platz. "Ich wünsche dir eine wundervolle Reise", hat Natasja gesagt, als sie mir das Tablett gebracht hat. Na dann mal los.

Das Besondere an der Reise, die vor mir liegt: Ich werde den Ort nicht verlassen. Zumindest nicht physisch. Es ist ein Samstag im Juli, und ich sitze in einer umgebauten Kirche etwa 20 Autominuten von Amsterdam entfernt. Das über hundert Jahre alte Gebäude dient auch heute noch als spiritueller Rückzugsort, aber mit deutlich mehr Luxus. Es gibt hell-skandinavisch eingerichtete Gästeappartements, eine Sauna – und eine Privatköchin kümmert sich um die Verpflegung. Leute kommen aus der ganzen Welt hierhin, um ihre Kreativität zu steigern, an ihren persönlichen Problemen zu arbeiten und nach dem Sinn zu suchen. Der Höhepunkt der meist dreitägigen Aufenthalte, die man beim Anbieter Synthesis buchen kann, ist eine Zeremonie, bei der man unter kontrollierten Bedingungen und – aufgrund der liberaleren holländischen Drogenpolitik (siehe Infobox unten) legal halluzinogene Substanzen einnimmt. Dafür bin ich angereist, genau wie alle anderen hier.

In einer umgebauten Kirche in der Nähe von Amsterdam ist das Retreat untergebracht.
Foto: Synthesis Institute B.V

In dem lichtdurchfluteten, quadratischen Raum sind sechs Matten kreisförmig um einen kleinen Altar herum aufgebaut. Die Sonne scheint durch vier Fenster in der Decke, die Luft riecht nach Kräutern, die in einem Holzgefäß vor sich hinkokeln und die Luft reinigen. In dem Tee, den ich trinke, schwimmen die Trüffel von psychoaktiven Pilzen, die in den nächsten Stunden für eine spirituelle und emotionale Grenzerfahrung sorgen sollen. Darum soll es hier gehen: um persönliche Weiterentwicklung, um therapeutische Selbsterfahrung. So wird es auf der Website des Anbieters unter synthesisretreat.com angepriesen. Die Wörter "Plant Medicine" und "Healing" fallen an diesem Wochenende oft, das Wort "Drogen" wird vermieden.

In den letzten Jahren ist die Diskussion über den Einsatz von Halluzinogenen zu therapeutischen Zwecken wieder aufgeflammt. Es fließt viel Geld in die entsprechende Forschung, vor allem von Investoren aus der Biotechwelt; Unternehmen sind entstanden, die sich in dem Geschäftszweig frühzeitig etablieren wollen. Es gibt zahlreiche Bücher, Podcasts und Communitys zu dem Thema (siehe Infokasten unten). Halluzinogene sind ihr Schmuddelimage als Hippiedrogen ein Stückweit losgeworden. Das macht auch den Boom der Psychedelic Retreats möglich.

Um ein seriöses, eher näher am Spa-Erlebnis liegendes Kennenlernen mit Pilzsubstanzen geht es im niederländischen Retreat Synthesis.
Foto: Synthesis Institute B.V

Die Trip-Sitter von Amsterdam

Es ist nicht ganz einfach, über dieses Wochenende in der Nähe von Amsterdam zu schreiben. Es gelten nämlich ein paar Regeln. Die anderen Teilnehmer dürfen nicht identifizierbar sein. Diskretion ist für die Anbieter entscheidend, zu persönlich sind die Erfahrungen. Deshalb nur so viel: Die anderen Teilnehmer sind zwischen Mitte 20 und Ende 30, stehen alle im Leben, haben Jobs, teilweise Familie. Manche haben einen Schicksalsschlag erlitten, andere haben einfach das Gefühl, dass eine mystische Erfahrung oder Bewusstseinsreise sie im Leben weiterbringen könnte. Das einem Spa-Erlebnis nicht unähnlich präsentierte Retreat-Angebot richtet sich an Leute, die ein seriöses, abgesichertes Kennenlernen mit den Pilzsubstanzen suchen – weil sie den Schritt sonst nie wagen würden.

Es gibt ein paar Daten über die Menschen, die bei Synthesis buchen. Es sind mehr Männer als Frauen, fast die Hälfte kommt aus den USA. Das Alter liegt im Durchschnitt bei 45 Jahren, knapp die Hälfte hat zuvor nie Erfahrungen mit psychedelischen Substanzen gemacht. Das sind die Menschen, die den Safe Space von Synthesis zu schätzen wissen.

In dem hellen, luxuriös eingerichteten Anwesen ...
Foto: Synthesis Institute B.V

Denn ein Safe Space ist das hier in mehrerlei Hinsicht. Zum einen gilt strenge Vertraulichkeit, zum anderen sind aber auch die äußeren Bedingungen sehr komfortabel. Während der Zeremonie sind vier erfahrende Mitarbeiter anwesend, die Namen wie Natasja, Adam oder Lauren tragen. Im Englischen heißt ihre Jobbeschreibung Facilitator, was sich ungefähr mit Vermittler oder Begleiter übersetzen lässt. Im Nebenraum sitzt während der Zeremonie für den Notfall eine Sanitäterin.

Diese Rundumversorgung ist nicht ganz billig. Knapp 2000 Euro kosten die klassischen drei Tage, es gibt aber auch Angebote für "Leadership Retreats", wo man mithilfe der psychoaktiven Pilze neue Ansätze als Führungskraft finden soll, oder gar "Private Retreats", bei denen man den ganzen Ort für sich hat. Synthesis liegt damit eher in der oberen Preisklasse, bietet dafür aber nicht nur professionelle Sicherheit während der Zeremonie, sondern auch die luxuriöse Unterbringung auf dem Architectural Digest-tauglichen Anwesen.

Überhaupt ist das hier eher als Gesamterlebnis angelegt, die Zeremonie ist nur ein Teil davon. Begleitet wird sie von Gruppengesprächen, Einzelsitzungen, Atem- und Entspannungsübungen. Vieles kommt aus einer eher esoterischen Ecke. Das kann befremdlich sein. Aber auch als eher naturwissenschaftlich geprägter Mensch, zu denen ich mich definitiv zählen würde, kann man sich darauf einlassen. Im Sinne von: Es ist ein bisschen wurscht, ob man den theoretischen Unterbau der Übungen für Blödsinn hält. Dass tiefes Atmen oder Bewegung gut für Körper und Geist sind, ist ja unbestritten.

Selbsterfahrung

Wenn der Tee getrunken und die zerkleinerten Trüffelreste aus der Kanne gelöffelt sind, gibt es kein Zurück mehr. Ich setze die Augenmaske auf. Im Hintergrund beginnt die Playlist mit meditativer Musik zu laufen, der Geruch von brennendem Salbei zieht langsam durch die geöffnete Tür in die sommerliche holländische Mittagsluft hinaus.

Ich bin nicht nervös. Es ist nicht das erste Mal, dass ich halluzinogene Pilze nehme. Das letzte Mal liegt allerdings mindestens 15 Jahre zurück. Teenagerjahre, mit Freunden am Strand eine Handvoll Pilze einwerfen und darüber lachen, wie die Wolken verrückt spielen. So was halt. Eine komplett andere Erfahrung, von der man nicht viel mitnimmt.

Das hier ist etwas völlig anderes. Im Vorfeld wird in Gruppen- und Einzelgesprächen ausgelotet, was man sich erwartet, im Nachhinein erfolgt eine intensive Aufarbeitung des Erlebten. Das soll dabei helfen, die in solchen Sitzungen gewonnenen Erkenntnisse später ins tägliche Leben zu integrieren. Die Augenbinde sorgt dafür, dass man mit seinen Erfahrungen allein ist, was intensiv und durchaus so geplant ist. "Erwachsenenschwammerln" wird das später ein Freund von mir nennen, als ich ihm davon erzähle.

... nimmt man unter Anleitung von "Tripbegleitern" Halluzinogene in einem strukturierten zeremoniellen Rahmen ein.
Foto: Synthesis Institute B.V

Das ist treffend und liegt durchaus im Trend. In verschiedenen Teilen Europa sind in den letzten Jahren Angebote für Psychedelic Retreats aus dem Boden geschossen. Es reicht von eher hippiesk anmutenden Wochenendtrips bis zu hochprofessionellen Anbietern wie Synthesis, das seit 2018 Retreats veranstaltet. Die Niederlande mit ihrer relativ liberalen Drogenpolitik sind ein Hotspot, aber auch in Portugal, Spanien oder auch Deutschland gibt es legale und halblegale Veranstaltungen, in deren Rahmen psychoaktive Pilze oder andere Halluzinogene wie der lateinamerikanische Pflanzensud Ayahuasca eingenommen werden.

Die Hoffnungen der Teilnehmer sind breit gefächert: ein kreativer Boost, die Überwindung von persönlichen Problemen, eine Reise in Teile des eigenen Ichs, die unter normalen Umständen versperrt bleiben. Vielleicht könnte man es so zusammenfassen: Die massive Grenzerfahrung soll dabei helfen, einen Knoten zu lösen. Trennen muss man die Debatte über den Einsatz von Halluzinogenen in der Psychotherapie vom Microdosing. Dieser Begriff beschreibt die regelmäßige Einnahme von Kleinstmengen an Halluzinogenen, die keine Halluzinationen auslösen, aber die Kreativität steigern sollen. Im Silicon Valley schwören manche darauf, halbwegs belastbare Studien konnten bislang keine über den Placeboeffekt hinausgehenden Effekte feststellen. Aber auch dieser Bereich ist Gegenstand laufender Forschung.

Vier Visionen

Jeder Trip ist anders. Und doch haben Kulturen, die eine lange Tradition mit Halluzinogenen haben, vier Phänomene identifiziert, die häufig auftreten. Die sieben- bis achtstündigen Trips können mehrere Phasen haben, es kann nur eines dieser Phänomene auftreten oder mehrere. Die Namen für diese vier Arten von Visionen können variieren, aber in Grundzügen beschreiben sie das, was eigentlich nicht beschrieben werden kann.

Das geht von "Pinta" (starke Halluzinationen mit Farben, Formen und kosmischen Reisen in fremde Dimensionen) über "Consulta" (dabei trifft man auf "Guides", also Personen oder Wesen, die einen durch die Visionen führen) bis zur "Sacred Surgery" (intensive, körperliche Erfahrungen wie unkontrollierte Bewegungen). Und dann gibt es noch etwas, das man als "Nada" bezeichnet: das Nichts. Manch einer empfindet Leere, liegt einfach stundenlang da, beschimpft sich für seine falschen Entscheidungen oder ist mit seinen Gedanken allein. Betroffene berichten aber, dass auch diese Trips langfristig sehr viel ändern können.

Zielgruppe für den 2.000 Euro teuren Kurztrip sind ...
Foto: Synthesis Institute B.V

Wichtig ist immer, sich zu vergegenwärtigen: Alles, was man sieht, kommt aus einem Selbst, und so muss man an die Erfahrung auch herangehen. Während der Vorgespräche geben einem die Begleiter einen Tipp, wie man aus den Visionen am besten Einsichten über sich selbst und sein Leben mitnehmen kann. Man solle versuchen, mit ihnen in einen Dialog zu treten. Befindet man sich plötzlich an einem bestimmten Ort oder trifft man einen Guide, soll man Fragen stellen: Warum hast du mich hierhin gebracht? Was möchtest du mir damit zeigen? Im Englischen klingt das etwas smoother: "What's the gift?", fragt Natasja. "What are you here to teach me?" Das klingt alles, zugegeben, etwas absurd, es hilft aber wirklich, wenn man Antworten haben möchte.

Es ist nicht trivial, die Erfahrung während der Zeremonie in Worte zu fassen. Am Tag danach werden die Begleiter den Tipp geben, dass man Außenstehenden die Erfahrungen weniger bildlich, sondern mehr emotional beschreiben soll. Also nicht "Was habe ich gesehen?", sondern mehr "Wie habe ich mich dabei gefühlt, und was hat das mit mir gemacht?". Letzteres können Menschen sehr viel besser nachempfinden, und es lässt sich nicht mit einem einfachen "Ah, du warst halt auf einem Drogentrip" abtun.

Für diesen Artikel werde ich aber nicht ganz um eine Beschreibung herumkommen. Zuerst einmal: Zeit ist kein Faktor. Sieben Stunden klingt lang, aber man verliert sehr schnell jedes Zeitgefühl. Nach anderthalb Stunden wird einem ein "Booster" angeboten, also eine zusätzliche Portion Trüffel, falls man tiefer eintauchen möchte. Ich nehme auch diese Portion komplett. Wenn schon, denn schon.

Mein Kontrollverlust

Mein Trip durchläuft mehrere Phasen. Das ist – wie beschrieben – nicht ungewöhnlich. Der erste, sehr intensive Teil ist ungefähr das, was man als "Tripping Balls" beschreiben würde. Sehr starke Halluzinationen, Farben, kosmische Reisen. Alles sehr intensiv, aber nicht bedrohlich. Ich lache, weine, manchmal im schnellen Wechsel, bis irgendwann meine Augenbinde aufgeweicht ist. Ein Ritt auf der Gefühlsachterbahn, der nicht zuletzt extrem Spaß macht. "You just had the biggest smile, it lightened up the room", wird man mir später erzählen.

Im zweiten Teil werden die Halluzinationen schwächer, die Reise wird klarer, die Bilder wechseln nicht mehr so schnell. Mein Gehirn führt mich an verschiedene Orte aus der Gegenwart, aber auch aus der Vergangenheit, an die ich schon ewig nicht mehr gedacht habe. Ich versuche mich an die Tipps und Fragen zu erinnern, die mir im Vorfeld gegeben wurden: Warum hast du mich hierher gebracht? Meistens habe ich das Gefühl, die Antwort zu verstehen. Die Phase ist ebenfalls intensiv, aber auf eine andere Art. Ängste tauchen auf, denen ich mich normalerweise nicht stellen würde.

Ich weiß, wo ich bin

Psilocybin, der Wirkstoff in halluzinogenen Pilzen, hat normalerweise keinen totalen Kontrollverlust zur Folge, auch bei mir nicht. Ich weiß jederzeit, wo ich bin, auch wenn der Raum um mich herumwandert und sich bewegt, wenn ich die Augenbinde abnehme. Man kann seinen Trip meist auch zu einem gewissen Maß steuern: Wenn eine Angst auftaucht, kann man sich entscheiden, ob man ihr ausweicht oder ob man tiefer eintaucht. Ich entscheide mich jedes Mal, tiefer einzutauchen. Das ist teilweise extrem schmerzhaft. Aber das sind die Momente, aus denen man etwas mitnehmen kann.

In der dritten Phase tritt dann so etwas wie Klarheit ein. Die Linien im Raum und auf meinen Händen wandern nicht mehr hin und her. Der Schmerz ist weiterhin da. Während die Hintergrundmusik langsam zu Liebesliedern wechselt, werden die dunklen Gefühle langsam von guten Gefühlen verdrängt. Am Ende bleiben, während es außerhalb des Raums vor den Toren Amsterdams langsam dunkel wird, vor allem Liebe und Verständnis übrig. Und ja, ich weiß, wie cheesy das klingt.

... "neugierige Individuen", die den kreativen Boost oder Bewusstseinserweiterung suchen.
Foto: Synthesis Institute B.V

Renaissance der Forschung

Der Einsatz von Halluzinogenen zu psychotherapeutischen Zwecken ist keine neue Erfindung, sondern eine Rückkehr. LSD, das 1943 vom Chemiker Albert Hofmann entdeckt wurde, wurde ab den 50er-Jahren in der Psychotherapie eingesetzt. Nach heftigen öffentlichen Diskussionen wurde die Substanz 1966 erst in den USA verboten, dann weltweit.

Auch die Forschung in dem Bereich kam fast vollständig zum Erliegen. In den letzten zehn Jahren kam es zu einer Renaissance der wissenschaftlichen Beschäftigung mit dem Phänomen. Am Center for Psychedelic Research in London untersuchen Wissenschafter die antidepressive Wirkung psychedelischer Pilze. Und es fließt nicht zuletzt auch Geld. Die britische Firma Compass Passways, an der unter anderem die Großinvestoren Peter Thiel und Christian Angermayer beteiligt sind, forscht intensiv, wie man aus Psilocybin ein neues Produkt für den boomenden Markt mit Antidepressiva machen kann. Und auch Synthesis, das sich ebenfalls mit Daten an britischen Studien beteiligt, ist natürlich ein gewinnorientiertes Unternehmen.

Enthusiasten hoffen, dass die kontrollierte Einnahme von Halluzinogenen bei Depressionen und posttraumatischen Belastungsstörungen helfen kann. Die wenigen randomisierten und placebokontrollierten Studien, die es in dem Bereich gibt, sind vielversprechend. Trotzdem ist unbestritten, dass es noch viel Forschung braucht. Und dass es Risiken gibt. Zwar gelten halluzinogene Substanzen als nicht abhängig machend, aber natürlich bleiben medizinische Risiken, derer man sich bewusst sein muss. Und es ist nicht für alle Patienten geeignet. Bei Synthesis muss man, wie bei vielen anderen Retreats auch, bei der Bewerbung einen Fragebogen beantworten. Bestimmte psychische Krankheiten wie zurückliegende Psychosen, bipolare Störungen, aber auch mangelnde körperliche Belastbarkeit sind ein Ausschlussgrund.

Integration ins Leben

Am Morgen des dritten Tages sitzen die Teilnehmer in dem großen Raum, der früher mal das Kirchenschiff war, über ihren Müslischüsseln. Alle wirken müde, die Erlebnisse des Vortags waren doch recht aufwühlend. Viel Schlaf hat niemand gefunden.

Man darf sich ein Psychedelic Retreat nicht so vorstellen, dass man einmal in die Niederlande fliegt und ohne Probleme zurückkommt. Die Arbeit beginnt erst danach. "Man muss sich sinnvoll um die Integration des Gelernten in den Alltag kümmern, sonst bleibt es eine einzelne, wenn auch gute Erfahrung", sagt Natasja. Es gibt ein paar Techniken, mit denen man gute Erfahrungen gemacht hat. Zum Beispiel "Journaling", also ein Gefühlstagebuch. Oder Meditationstechniken, bei denen man abwechselnd herausfordernde Erinnerungen an den Trip mit positiven Erinnerungen vor das geistige Auge holt. Am dritten Tag des Retreats geht es genau um solche Techniken und die Frage, wie man aus dem sicheren Refugium wieder in die Welt tritt.

Selbst verantwortlich

Gelegentlich gibt es den Vorwurf, dass Anbieter von Retreats die Menschen mit den aufwühlenden Erfahrung alleinlassen würden. Ganz so stimmt das nicht. Die Mitarbeiter betonen mehrfach, bei Problemen und Rückfragen auch nach der Abreise erreichbar zu sein. Man erhält ein Dokument mit Tipps, zwei Wochen später gibt es einen Termin für ein Gruppentelefonat. Aber letztlich ist es natürlich schon so, dass die Teilnehmer für die Nachbereitung und Integration der Erfahrungen ins eigene Leben selbst verantwortlich sind. Man muss herausfinden, was einem dabei hilft. Die einzige strikte Regel, die es mit auf den Weg gibt: In den ersten drei Monaten sollte man keine tiefgreifenden Entscheidungen wie eine Kündigung oder Trennung treffen.

Die meisten Teilnehmer starten Whatsapp-Gruppen und bleiben in Kontakt. Am Ende gibt es viele Umarmungen. So ein Erlebnis schweißt zusammen, und es ist natürlich auch ein bisschen wie ein Ferienlager. Mit den üblichen Regeln: In den nächsten Tagen wird man sich viel auf Whatsapp hin- und herschreiben, irgendwann dann immer weniger.

Ein paar Tage nach dem Ende des Retreats sitze ich auf der Couch in meinem normalen Leben. Um die Frage zu beantworten, was dieser Trip mit mir gemacht hat, ist es zu früh. Erfahrungsgemäß dauere das bis zu einem halben Jahr, sagen die Leute von Synthesis. Es war in jedem Fall eine emotionale Grenzerfahrung, eine Beschäftigung mit tief verborgenen Ängsten, die ich im Alltag augenblicklich mit Argumenten zudecken würde. Im Rahmen der Zeremonie konnte ich die nackte Angst für eine kurze Zeit einfach mal zulassen. Das ist wahrscheinlich nichts, was man nicht auch im Rahmen von anderen therapeutischen Maßnahmen lernen kann. Aber vielleicht hat es tatsächlich Knoten gelöst. (Jonas Hofmann, DER STANDARD, 3.8.2019)

*Der Autor schreibt regelmäßig für den STANDARD, möchte aber nicht, dass dieser Text für immer unter seinem Namen auf Google zu finden ist. Er wählte deshalb ein Pseudonym.

Der Aufenthalt in dem Retreat erfolgte auf Einladung des Anbieters Synthesis Retreat