Proteste in Bukarest, auf dem Transparent steht: "Rumänien wurde getötet".

Foto: AFP/DANIEL MIHAILESCU

Die Empörung ist in Rumänien noch immer groß. Behördenversagen hatte dazu geführt, dass ein 15-jähriges Mädchen in der Kleinstadt Caracal getötet wurde. Alexandra M. hatte zuvor noch die Notrufnummer 112 angerufen und mehrmals um Hilfe gerufen. Anfangs wurde sie von der Polizei gar nicht ernst genommen, schließlich kamen die Beamten nach weiteren Pannen zu spät. Mittlerweile ist Innenminister Nicolae Moga zurückgetreten.

Was genau hat zu diesem Behördenversagen geführt? Und welche Konsequenzen wird es haben? Das erklärt der rumänische Politologe Cristian Pîrvulescu im STANDARD-Interview.

STANDARD: Was halten Sie von dem Vorschlag von Regierungschefin Viorica Dăncilă, nach dem Mord an einer 15-Jährigen Sexualstraftäter kastrieren zu wollen?

Pîrvulescu: Die Tragödie von Caracal brachte Rumänien vor eine Gewissensprüfung. Es geht nicht nur darum, dass die Polizei politisiert wurde, es geht um eine gesellschaftliche Entwicklung, die zu einem tragischen Ergebnis geführt hat. Öffentliche Aufregung führt aber immer zu Politisierung. Wir sind im Wahlkampf, und Viorica Dăncilă ist Präsidentschaftskandidatin. Daher kommt die Idee, ein Referendum zu organisieren, um die Strafen zu verschärfen und die chemische Kastration von Sexualstraftätern einzuführen. Aber all diese Inszenierungen umgehen das Wesentliche: Der Angriff auf die Rechtsstaatlichkeit und die Unabhängigkeit der Justiz hat die Justiz zerstört. Ministerpräsidentin Dăncilă ist direkt verantwortlich dafür. Sie versuchte, die Verantwortung auf den Special Telecommunications Service (STS) und die Staatsanwälte zu verlagern, Teile des sogenannten Parallelstaates. Obwohl nach der Inhaftierung des ehemaligen Parteichefs der Sozialdemokraten Liviu Dragnea nicht mehr vom Parallelstaat die Rede ist, gehen nun Verschwörungstheorien über Geheimdienste, den STS, Staatsanwälte, Nichtregierungsorganisationen und Soros-Leute in die gleiche Richtung: Es geht darum, Straffreiheit für Politiker und ihre Klientel durch die Zerstörung der Rechtsstaatlichkeit zu gewährleisten.

STANDARD: Es scheint, dass die Polizei im Fall des ermordeten Mädchens nicht professionell gehandelt hat. Wo liegen die Probleme?

Pîrvulescu: In der Rechtssache Caracal wurden zwei Straftaten aufgedeckt, eine im April betreffend Luiza M. (18) und eine weitere am 25. Juli betreffend Alexandra M. (15). Im ersten Fall reagierte die Polizei nicht auf die Anrufe der Familie, und sie nahm daher an, dass das Mädchen einfach abgehauen war. Im zweiten Fall hatte das Mädchen dreimal die 112 gewählt, aber der Anruf wurde nicht bemerkt. Die Polizisten riefen das Mädchen von ihrem eigenen Telefon aus an, um mit ihm zu sprechen, aber sie schienen nicht an seine Version oder die unmittelbare Gefahr zu glauben, in der sich das Mädchen befand.

STANDARD: Was sind die Hauptgründe dafür? Ist es ein Mangel an professioneller Ausbildung der Polizei?

Pîrvulescu: Es gibt zwei Hauptgründe: die Politisierung der Polizei, die zu Deprofessionalisierung und machistischen Vorurteilen in Polizei und Gesellschaft geführt hat. Die Polizisten scheinen M.s Mutter gesagt zu haben, dass sie wahrscheinlich mit einem Freund weggegangen sei.

STANDARD: Mangelt es auch an Koordination innerhalb der Polizei?

Pîrvulescu: Die Rechtssache Caracal hat gezeigt, dass die Änderung von Justizgesetzen, insbesondere aber die verfassungswidrige Erklärung über die Strafprozessordnung, das ganze System gestört haben. Die Beziehung zwischen der Polizei, der Staatsanwaltschaft und dem rumänischen Geheimdienst (SRI) wurde unterbrochen und konnte nicht wiederhergestellt werden. Dies hat zu Rissen in der Funktionsweise des öffentlichen Ordnungssystems geführt und Fehler ermöglicht. Die Verbrechen in Caracal stellen jedoch eine viel tiefere Situation zur Schau: die Gewalttoleranz eines Teils der rumänischen Gesellschaft.

STANDARD: Glauben die Polizei den Leuten nicht, die die Notrufnummer 112 anrufen?

Pîrvulescu: Nach dieser Tragödie wird wahrscheinlich das System 112 funktionstüchtig gemacht werden, aber dies wird Alexandra nicht mehr helfen. Und wenn wir wollen, dass solche Dinge nicht passieren, braucht es mehr als eine gesetzliche Umgestaltung: Wir brauchen eine moralische Erneuerung.

STANDARD: Gibt es ähnliche Fälle in Rumänien? Und wohin könnte diese Protestbewegung im Fall der Mädchenmorde führen?

Pîrvulescu: In Rumänien sind keine weiteren Fälle bekannt. Aber es ist nicht unmöglich, dass sie existieren. Die an der Macht befindlichen Politiker versuchten die Situation zu kontrollieren, damit es nicht zu Massenprotesten kommt. Das Wahljahr und die Sommersaison scheinen keine weitreichenden Proteste anzutreiben. (Adelheid Wölfl, 31.7.2019)