"Wir müssen das Alter neu denken": Der Demograf Sergei Scherbov

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75 Jahre alt werden Frauen laut den Vereinten Nationen heute im weltweiten Durchschnitt. Männer leben mit durchschnittlich 70,2 Jahren etwas kürzer. Österreich liegt mit 84 Jahren (Frauen) und 79,4 Jahren (Männer) im westeuropäischen Mittel. Seit 1950 ist die Lebenserwartung um mehr als 20 Jahre gestiegen. Sergei Scherbov ist Demograf und stellvertretender Leiter des World Population Program am Internationalen Institut für angewandte Systemanalyse (IIASA). Er findet, dass es an der Zeit ist, unsere Auffassung vom Altern zu überdenken.

STANDARD: Wie bestimmt man, wer alt ist?

Scherbov: Lange Zeit hat man Leute ab 60 oder 65 Jahren für alt gehalten. Dabei haben vor rund 200 Jahren nur etwa 25 Prozent der Menschen so lange gelebt. Heute werden über 90 Prozent der Menschen älter als 60 Jahre. Auch der Spruch "40 ist das neue 30" stimmt: 2010 hatten 40-jährige Menschen die gleiche Lebenserwartung wie 30-Jährige in den 1960er-Jahren. Deswegen müssen wir diese Auffassung vom Altern überdenken.

STANDARD: Was schlagen Sie vor?

Scherbov: Wir sollten nicht nur das chronologische Alter betrachten, also das Alter als reine Zeitangabe, sondern auch die Eigenschaften des Menschen zu einem gewissen Zeitpunkt. Wir sind immer gesünder und fitter – physisch wie mental. Eines meiner Lieblingsbeispiele ist die Tabelle der ältesten Mount-Everest-Bezwinger: 1953 war das ein 39-Jähriger. 2013 schaffte es ein 80-jähriger Japaner. Wir schlagen deshalb vor, diese Schwelle neu zu setzen: Alt ist jemand, der eine Lebenserwartung von noch etwa 15 Jahren hat.

STANDARD: Was würde das ändern?

Scherbov: Betrachtet man die Population auf diese Weise, flacht die Kurve einer alternden Gesellschaft ab. Das Verhalten von Menschen verändert sich ja mit den Erwartungen, die an sie gestellt werden. Viele denken, dass die Politik einen Fehler macht, wenn sie das Pensionsalter anhebt. Aber es ist eine Tatsache, dass die Menschen im höheren Alter alt werden. Wenn Leute nicht mehr als alt gesehen werden und sich subjektiv jünger fühlen, werden sie auch bereit sein, länger zu arbeiten. Wir sind heute einfach biologisch jünger als unsere Eltern, als die im gleichen Alter waren. (Katharina Kropshofer, 28.6.2019)

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