Seit der siebente Bezirk in Wien flächendeckend Tempo 30 eingeführt hat, ist die Diskussion über diese verkehrspolitische Maßnahme wieder in Schwung gekommen. Und das ist gut so.

Rappelvolle Schanigärten und intensiv frequentierter öffentlicher Raum zeigen, dass es die Menschen dorthin zieht, wo Lebensqualität ist. Nicht selten ist die gerade im eigenen Zuhause eingeschränkt. Vor allem dann, wenn geöffnete Fenster Lärm und Abgase in die Wohnung holen.

Eine Aufnahme von 2003. Schon damals bemühte man sich in Graz um Tempo 30. Zumindest Zwischenerfolge können die Aktivisten verzeichnen.
Foto: PR Trumler

Und flächendeckendes Tempo 30 in der Stadt ist ein Schlüssel zu mehr Lebensqualität. Es macht nicht nur das Teilnehmen am Verkehrsgeschehen entspannter – ob im Auto oder außerhalb. Es ist auch das Instrument, um die Zahl der schweren und tödlichen Unfälle wirksam zu senken. Und die Angst vor Unfällen, unter der vor allem Eltern von Schulkindern leiden, fällt weg. Auch das ist Lebensqualität.

Es gibt Kommunen, die haben das erkannt. Berlin oder Graz sind da zu nennen, aber auch die Wiener Bezirke Josefstadt und eben Neubau, wo Tempo 30 jetzt auch in den Straßen mit Öffis gilt. Aus den dortigen Erfahrungen lässt sich lernen.

Ulrich Leth (36) ist Verkehrsplaner und unterrichtet an der TU Wien.
Foto: Ulrich Leth

Ulrich Leth, Verkehrswissenschafter an der TU Wien, beschäftigt sich schon seit zehn Jahren mit menschengerechter Verkehrsplanung. Er evaluiert, ob und wie die Wohnbevölkerung und diejenigen, die Auto fahren wollen oder müssen, von einer flächendeckenden Tempo-30-Beschränkung profitieren. Wie sich das im Detail auswirkt, hat er sich in Hinblick auf folgende Faktoren angeschaut:

  • Sicherheit
  • Lärm
  • Luftqualität
  • Verkehrsflüssigkeit
  • Verkehrsleichtigkeit
  • öffentlicher Verkehr

Statistisch gesehen gibt es auf Tempo-30-Straßen signifikant weniger Unfälle mit Personenschaden – auch wenn man herausrechnet, dass Tempo-50-Straßen naturgemäß stärker befahren sind. Der Grund dafür liegt zum einen im Anhalteweg. Der beträgt bei Tempo 30 noch 13 Meter, bei Tempo 50 aber schon 30 Meter, ist also mehr als doppelt so lang. Zum anderen in der Unfallschwere: Bei Tempo 30 sind weniger als zehn Prozent der Unfälle tödlich. Bei Tempo 50 sind das aber mehr als ein Drittel. Und die Wahrscheinlichkeit, bei dieser Geschwindigkeit als angefahrene Person mit leichten Verletzungen davonzukommen, beträgt weniger als 20 Prozent.

Sicherheit für Schulkinder

Leth weist darauf hin, dass in Wien viele Schulwege, gerade auch die von Volksschulkindern, an Tempo-50-Strecken liegen, wobei diese von den Kindern sogar überquert werden müssen. Nicht in allen Städten wird die Gefährdung der Kinder einfach hingenommen. So wurde in Berlin im Bereich von über 100 Schulen, die am Tempo-50-Straßennetz liegen, Tempo 30 eingeführt. Doch auch in Wien beginnt man mit Maßnahmen: In sogenannten Schulstraßen gibt es ein 30-minütiges Fahrverbot am Morgen.

Sicherheit und Leichtigkeit des Straßenverkehrs machen das Radfahren attraktiv.
foto: christian fischer

Für die Radlerinnen und Radler bringt Tempo 30 viel mehr Sicherheit. Bei dieser Geschwindigkeit können sie sich problemlos im Fließverkehr bewegen. Bei erlaubten 50 Stundenkilometern dagegen ist eine bauliche Trennung von Rad- und Kfz-Verkehr notwendig. Das verschärft wiederum den Nutzungskonflikt um den begrenzten öffentlichen Raum. Und wenn im Alltag der Verkehrsorganisation dann oft auf diese bauliche Maßnahmen verzichtet wird, droht der Radverkehr zu stagnieren.

Weniger Lärm, weniger Abgase

Für alle Lärmgeplagten reduziert sich der Stress. So bewirkt Tempo 30, dass Menschen die Verkehrsmenge, die sie umgibt, nur mehr als halb so groß empfinden wie bei Tempo 50. Objektiv begründet liegt die Lärmreduktion vor allem im geringeren Abrollgeräusch und im weniger starken Beschleunigungslärm. Doch auch die subjektive Wahrnehmung hilft. Die Lautstärkereduktion um zwei bis drei Dezibel wird als Halbierung des Lärms wahrgenommen.

Was den Schadstoffausstoß betrifft, gibt es noch nicht so viele Untersuchungen. Und die positiven Auswirkungen sind auch nicht so eklatant. Dennoch lässt sich feststellen: Ein gleichmäßiger Verkehrsfluss bei Tempo 30 erhöht zwar die Emissionen während der Konstantfahrt, dafür sind die emissionsreichen Beschleunigungsphasen viel kürzer. Am Ende geht auch diese Bilanz leicht zugunsten von Tempo 30 aus.

Dort, wo die Autos weniger brausen, gibt es mehr Platz für die anderen Dinge des Lebens: Blumen und soziale Kontakte.
foto: robert newald

Die Straßenverkehrsordnung kennt zwei etwas schwammige Begriffe: nämlich die Flüssigkeit und die Leichtigkeit des Verkehrs. Es ist zwar nirgends festgelegt, was diese Begriffe genau bedeuten. Dennoch wird anhand dieser Parameter der Verkehr organisiert. Und wohl jeder Verkehrsteilnehmer und jede Verkehrsteilnehmerin hat für sich eine genaue Vorstellung davon.

Spontan die Straße überqueren

Für Tempo 30 in der Stadt gilt, dass es den Verkehr sowohl flüssiger als auch leichter macht. Viele Autofahrerinnen und noch mehr Autofahrer empfinden langsames Fahren als Stau. Dabei ist genau das Gegenteil der Fall. Denn dadurch, dass die Geschwindigkeitsdifferenzen zwischen den Autos geringer sind, wird der Gesamtverkehr flüssiger. Und je homogener der Verkehrsfluss ist, desto mehr Autos (nicht weniger, wie in einem Stau) kommen voran.

Bei Tempo 50 ist der Folgeabstand zwischen den Fahrzeugen ein größerer als bei Tempo 30. Misst man diesen nicht in Metern, sondern in Sekunden, so braucht er bei beiden Geschwindigkeiten die gleiche Zeit. Aber bei Tempo 50 haben nicht so viele Fahrzeuge auf demselben Straßenabschnitt Platz. Und es gibt mehr Abbremsungen und Beschleunigungen vor und nach Ampeln, Öffi-Haltestellen, Einparkvorgängen und zu Fuß Querenden.

Das Überqueren der Fahrbahn ist in Tempo-30-Zonen kein Stresstest mehr.
foto: matthias cremer

Die Leichtigkeit des Verkehrs betrifft alle, die auf einer Straße unterwegs sind. Gerade für Menschen zu Fuß ist es ungleich leichter, spontan und dort, wo es für sie am günstigsten ist, eine Straße zu überqueren, wenn sich die Kraftfahrzeuge mit Tempo 30 nähern. Und wie kriegt der Radverkehr mehr Leichtigkeit? Zum Beispiel durch leichtes Linksabbiegen. Denn das ist praktisch unmöglich, wenn man von hinten die Autos mit 50 Stundenkilometern heranbrausen vernimmt.

Gelebte Nachbarschaft

Auch das Zusammenspiel von öffentlichem Verkehr und Tempo 30 hat Ulrich Leth untersucht. Und das Argument, dass Tempo 30 Bim und Bus langsam mache, entkräftet er. Was wichtig ist – gerade angesichts der Besorgnis, wie sie debattenbezogen in Boulevardmedien aufflammt. Die Fakten für den achten Bezirk zum Beispiel sind folgende: Dort erreichen die Straßenbahnen selten höhere Geschwindigkeiten als 30 Stundenkilometer. Eine niedrigere Maximalgeschwindigkeit würde sie also kaum bremsen. Dagegen würden Ampelschaltungen zugunsten des öffentlichen Verkehrs die einzelnen Linien bedeutend schneller machen.

Und schließlich bringt Tempo 30 in einer Straße zusätzlich Platz. Weniger Asphalt, mehr Grün werden möglich. Laut Verkehrsclub Österreich können Tempo-30-Fahrbahnen im Idealfall um fast einen Meter schmäler gebaut werden als die, auf denen Tempo 50 gilt. Und noch etwas ist interessant: Dort, wo das Tempo bereits reduziert wurde, haben die Menschen mehr und intensivere Kontakte zur Nachbarschaft in ihrer Straße. (Reinhilde Becker, 16.7.2019)