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Die bloße Einrichtung von "Time-out-Klassen" als Notfallmaßnahme droht ein Schnellschuss zu werden.

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Gewalt an Schulen hat viele Ursachen. Ihnen gilt es mit Professionalität zu begegnen, fordert Wilfried Datler, Dekan der Fakultät für Philosophie und Bildungswissenschaft der Uni Wien, im Gastkommentar. Es braucht eine spezifische Ausbildung des Lehrpersonals, professionelle, im Alltag eingebundene Supervision und Fallbesprechungen – und erst dann Varianten wie Time-out-Klassen.

Dass die Öffentlichkeit auf die jüngst bekannt gewordenen schulischen Gewaltszenen heftig reagiert, ist verständlich. Niemand wünscht sich eine Schule, in der es zu handgreiflichen Auseinandersetzungen zwischen Schülern und Lehrern kommt. Dass Bildungsminister Heinz Faßmann als erste Maßnahme die Einrichtung von Time-out-Klassen vorschlägt, ist hingegen kritisch zu sehen. Aus bildungswissenschaftlicher Sicht sind Prioritäten anders zu setzen. Es ist von Vorteil, wenn man sich diesbezüglich mehrere Aspekte vor Augen hält.

Enorme Belastungen

Im Laufe der letzten Jahrzehnte nahm die Zahl der Kinder und Jugendlichen mit erheblichen emotionalen und sozialen Problemen im Regelschulbereich stark zu. Das ist nicht nur auf Flucht- und Migrationsbewegungen zurückzuführen, sondern auf viele unterschiedliche Faktoren: auf prekäre Bedingungen, unter denen auch Kinder ohne Migrationshintergrund aufwachsen, auf das Fehlen eines flächendeckenden Systems früher Hilfen, auf beschämende Leerstellen im Bereich der öffentlichen Finanzierung von Kinderpsychotherapie, auf den Rückgang von klaren Verhaltensorientierungen oder auf die – an sich begrüßenswerte – Zunahme von Integration und Inklusion.

Bei den Kindern und Jugendlichen, die mit erheblichen emotionalen und sozialen Problemen zu kämpfen haben, handelt es sich nicht um junge Menschen, die hie und da einmal über die Stränge schlagen oder sich zu einem Lausbubenstreich hinreißen lassen. Sie haben vielmehr enorme emotionale Belastungen und Entbehrungen erfahren müssen und seelische Überlebensstrategien entwickelt, die sich oft genug durch Geringschätzung, Aggression, seelischen Rückzug oder andere Verhaltensweisen auszeichnen, mit denen sie sich und andere wiederholt in Bedrängnis bringen.

Spezielles Lehrpersonal

Da sich die emotionalen und sozialen Probleme dieser Kinder und Jugendlichen auch in pädagogischen und therapeutischen Beziehungen zeigen, ist die Arbeit mit ihnen sehr schwierig. Hilfsangebote werden oft abgelehnt oder sogar attackiert. Deshalb bedarf es auch im schulischen Kontext hochqualifizierter Personen, die in der Lage sind, sich auf diese pädagogischen Verstrickungen einzulassen, ohne darin unterzugehen, und die dabei entstehende destruktive Dynamik zu verstehen und diese zu bearbeiten. All dies bedarf Zeit, eines entsprechenden Rahmens, Teamworks, einer Zusammenarbeit mit außerschulischen Institutionen sowie einer engen Kooperation mit Eltern, die im Regelfall selbst eine prekäre Schullaufbahn hinter sich haben und Schule zunächst als etwas Feindliches erleben.

Es gibt Lehrerinnen und Lehrer, die speziell dafür qualifiziert sind. Sie werden Psychagogen oder Beratungslehrer genannt und nahezu ausschließlich im Pflichtschulbereich eingesetzt. Es wäre höchst wichtig, sie auch in AHS und BHS systematisch und flächendeckend vorzusehen. Davon ist keine Rede. Stattdessen droht ständig das Gespenst, deren Einsatz zurückzufahren.

Berufsbegleitende Qualifizierung

Psychagogen und Beratungslehrer haben spezielle Studien absolviert – etwa ein dreijähriges Masterstudium an der Universität Wien, in dem sie in Kooperation mit pädagogischen Hochschulen berufsbegleitend für diese Art von Arbeit qualifiziert wurden. Es wäre höchst dringlich, diese Studien auszubauen und endlich zur Gänze öffentlich zu finanzieren.

Die neu eingerichteten Lehramtsstudien zur inklusiven Pädagogik können eine Basis für diese Weiterbildung darstellen, eine berufsbegleitende, mehrjährige Qualifizierung auf diesem herausfordernden Gebiet jedoch nicht ersetzen. Analog zur Medizin: Da bedarf es einer postuniversitären Facharztausbildung, weil niemand davon ausgeht, dass Absolventen eines Medizinstudiums gleich schwere Operationen durchführen können.

Professionelle Reflexion

Für Psychagogen und Beratungslehrer sind Supervision und Fallbesprechungen selbstverständliche Elemente der Alltagsarbeit. Dies gilt in zunehmendem Ausmaß für Angehörige psychosozialer Berufe. Die Institution Schule in ihrer Gesamtheit ist davon aber meilenweit entfernt. Hier wird Supervision vielerorts immer noch als Eingeständnis von Schwäche erlebt und ein gelegentlicher Austausch über das eine oder andere Kind mit professioneller, begleitender Praxisreflexion verwechselt. Es ist höchst an der Zeit, auch von ministerieller Seite her aktiv zu werden und die kontinuierliche Besprechung von Fallarbeit unter professioneller Leitung flächendeckend im Schulsystem zu verankern.

Wenn die genannten Maßnahmen zumindest eingeleitet sind, kann auch über Varianten von Time-out-Klassen gesprochen werden. Über die Arbeit in solchen Kleinklassen gibt es international und auch in Österreich Erfahrungen. Dabei zeigt sich: Sie ist dann erfolgreich, wenn sie nach einem wissenschaftlichen Konzept erfolgt, das neben der Arbeit in und mit der Klasse auch intensive Elternarbeit, Einzelbetreuung und die Zusammenarbeit innerhalb des gesamten schulischen Standorts vorsieht. Überdies bedarf es speziell qualifizierter Lehrpersonen, die solch ein Konzept umsetzen können. Bleibt dies aus, kommt es bloß zu einer schwer steuerbaren Zusammenballung verschiedener emotionaler und sozialer Probleme auf engem Raum. Die bloße Einrichtung solcher "Time-out-Klassen" als Notfallmaßnahme droht daher ein Schnellschuss zu werden, der das Gegenteil des Intendierten nach sich zieht.

Expertise gefordert

Es ist verständlich, wenn sich Faßmann gedrängt sieht, nach dem Bekanntwerden der Vorfälle schnell zu reagieren. Es wäre allerdings bedauerlich, wenn er in weiterer Folge darauf verzichten würde, auf die vorhandene Expertise zurückzugreifen, die es auch in Österreich auf diesem Gebiet gibt. Dass er als ehemaliger Vizerektor der Universität Wien zwischen politisch motivierten und wissenschaftlich begründeten Maßnahmen zu unterscheiden weiß, hat er in anderen Fällen ja schon unter Beweis gestellt. (Wilfried Datler, 16.5.2019)