Junge Tomatenpflänzchen in alten Konservendosen und Aufzuchtbehälter für Sprossen stehen in den Fenstern des neu eröffneten Kindergartens Philokids an der äußeren Mariahilfer Straße. Am Gebäude hängt ein Schild: Hier wird Ökostrom bezogen. Man legt Wert auf Umweltschutz und will hier auch sonst alles richtig machen: Das pädagogische Konzept ist religions- und genderneutral und soll das Selbstbewusstsein der Kinder fördern.

Hier lernen die Kinder, wie Pflanzen wachsen und Früchte hervorbringen.
Foto: Standard/Andy Urban

22 Kinder sind seit Februar hier eingewöhnt und fühlen sich sichtlich wohl. Sie sitzen mit Pädagogin Santosha Bonev rund um den Knettisch. "Schau, ich habe einen Schnurrbart", kichert die fünfjährige Lea, und ehe man sich versieht, hat man auch ein oranges Exemplar an der Oberlippe. Währenddessen sticht ihre Freundin Matea Keksfiguren aus.

"Das Rezept für die selbstgemachte Knete ist einfach und viel gesünder als gekaufte", sagt die pädagogische Leiterin Poopak Azimi Nejadi. Viele Spielsachen in der derzeit geöffneten Familiengruppe für Kinder von null bis sechs sind selbstgemacht: Gefilzte Ringe und Bälle, genähte Säckchen mit unterschiedlichen Inhalten und befüllte Flaschen zum Schütteln stehen griffbereit. Wiederverwertung und bewusster Umgang mit Ressourcen sollen den Kindern hier nähergebracht werden.

Die Puppen in Realgröße haben Geschlechtsteile. Das soll das Körperbewusstsein der Kinder stärken.
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Rücksicht auf den Körper

Der vierjährige Nasha zieht zwei Puppen aus, legt sie in einen Holzpuppenwagen und deckt sie zu. Die Puppen mit unterschiedlichen Hautfarben und in Realgröße haben Geschlechtsteile. Sie waren gar nicht so einfach aufzutreiben. "Wir wollen vermitteln, dass Geschlechtsteile normal sind", erklärt Projektleiterin und Sozialpädagogin Mahsa Abdolzadeh, die den Kindergarten mitgegründet hat.

Die Pädagoginnen nehmen auch beim Wickeln Rücksicht auf den Körper der kleinen Menschen: Sie heben sie nicht einfach auf den Wickeltisch, sondern lassen sie selbst über eine Holzleiter hinaufkrabbeln. Ob sie im Stehen oder Liegen gewickelt werden, entscheiden sie selbst. "Das Bewusstsein für den eigenen Körper zu fördern ist ein wichtiger Teil der Aufklärung", sagt Abdolzadeh. Auch sonst sind die Kinder hier sehr selbstbestimmt: Es gibt keinen Zwang zum Mittagsschlaf, und wer nicht basteln will, muss das auch nicht. Projekte wählen sie selber aus. Eltern schätzen den Freiraum, den der Kindergarten bietet: "Kinder lernen hier, Fragen zu stellen, nach Gründen für etwas zu fragen, und werden nicht bevormundet", sagt eine Mutter.

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Gemüse und Vollkornkost

Während die Kinder "Häschen in der Grube" singen und tanzen, herrscht in der hauseigenen Küche Hochbetrieb: Gekocht wird vegetarisch und – soweit es geht – biologisch und regional. Die Nudeln sind aus Vollkorn, und zur Jause zwischendurch ist dunkles Brot im Korb. Einmal im Monat gibt es Semmeln, wenn Gulaschtag ist. Aber auch das geht ohne Fleisch – mit Kürbis oder Hülsenfrüchten. Dabei sind viele Eltern gar keine Vegetarier. "Fleisch geht am schnellsten und kommt daher in vielen Familien oft auf den Tisch. Dazu wollen wir einen Ausgleich mit viel Obst, Gemüse und Proteinen schaffen", sagt die Kindergartengründerin.

Kein "Ladies first"

Im Fokus des Konzepts steht auch Genderneutralität. Das fängt schon bei den Formularen und Briefen an. Schreiben an die Erziehungsberechtigten sind nicht an die Eltern adressiert, sondern beginnen mit "Liebe Familien". Auch die Begriffe "Mama" und "Papa" sind auf den Mitteilungen nirgends zu finden. "Manche der Kinder wachsen bei Oma und Opa auf oder kommen aus dem Kinderdorf, Familie ist divers", so Abdolzadeh.

Küchenzeile und Bauecke sind räumlich in der Nähe, damit die Kinder eher die Spielsituation wechseln. Trotzdem gibt es auch einen Frisiertisch mit Spiegel: Sich zurechtzumachen soll für Buben und Mädchen ganz normal sein, denn auch das gehört zum Körpergefühl. Ausdrücke wie "Ladies first" oder "Du bist ein braves Mädchen" vermeiden die Pädagoginnen, und Kinderbücher, in denen der Prinz die Prinzessin am weißen Pferd zur Hochzeit abholt oder die Mutter nur im Haushalt zu sehen ist, sucht man hier vergeblich.

Dennoch ist alles erlaubt, Blau und Rosa sind nicht verpönt. Verkleiden sich Mädchen gern als Eisprinzessinnen, ist auch das Alltag. "Wir behaupten nicht, dass wir perfekt sind, reflektieren aber ständig, wie wir mit den Kindern umgehen, denn Stereotype sind tief verankert. Das aufzubrechen ist uns wichtig", sagt Mahsa Abdolzadeh. Weihnachten und Ostern sind genauso Thema wie Ramadan oder Chanukka. Die Kinder entscheiden selbst, womit sie sich näher beschäftigen wollen. Zuletzt war Ostereierbemalen der Hit in der Gruppe. Aber auch der Frauentag, der Internationale Tag der Menschenrecht oder der 1. Mai sind präsent.

In der gemütlichen Bücherecke können sich Kinder jederzeit dazusetzen, wenn Assistenzpädagoge Max vorliest. Viele der Bücher sind gebraucht, geschlechterstereotype Exemplare wurden aussortiert.
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Soziale Durchmischung

Der Kindergartengründerin wurde kürzlich von Bekannten augenzwinkernd zu ihrem Kindergarten für Bobo-Kinder gratuliert. "Doch die soziale Mischung ist uns sehr wichtig", betont Abdolzadeh. Das spiegelt sich auch in der Gruppe wider. Daher bekommen Familien, die einen Essenszuschuss der MA 11 erhalten, einen zusätzlichen Nachlass auf die monatlichen Kosten. Ein Ganztagsplatz kostet 300 Euro. Mehr als die Hälfte der angemeldeten Kinder (88 können aufgenommen werden) bekommen diese Förderung. Auch im Team ist für Diversität gesorgt: Der 19-jährige Max arbeitet als Assistenzpädagoge bei Philokids und geht in seinem Job auf: "Ich entdecke die Welt durch die Kinder wieder neu." So lernen die Kinder nebenbei auch, dass es ganz normal ist, dass sich Männer um Kinder kümmern. (Marietta Adenberger, 19.5.2019)