Als Chefredakteurin von "Le Monde" und Journalistin für die "New York Times" war Sylvie Kauffmann seit Beginn der Gelbwesten-Proteste Mitte November 2018 sehr aktiv in die Recherche und Berichterstattung über die "Gilets jaunes" eingebunden. Beim Internationalen Journalismusfestival in Perugia hat sie über das Misstrauen gegenüber den Gelbwesten in Mainstreammedien gesprochen.

Demografisch definierbar, politisch ungreifbar

Eigentlich seien die Gelbwesten klar als Gruppe mit gemeinsamen Problemen einordenbar, meint Kauffmann. Sie seien die "working poor" Frankreichs, die für sehr wenig Geld viel arbeiten, denen gegen Monatsmitte das Geld ausgeht. Menschen die aus den städtischen Gebieten verdrängt worden sind, weil sich die Mietpreise so erhöht haben, und die jetzt auf dem Land leben, wo sie aufgrund der schlechten öffentlichen Verkehrsinfrastruktur auf Autos angewiesen sind.

Gelbwesten-Protest am 6. April am Quai de Valmy in Paris.
Foto: Anne-Christine POUJOULAT / AFP

"Die Steuer auf Benzin und Diesel war dann die eine Steuer, die zu viel war. Man hatte sich davor schon in Facebook-Gruppen, die 'Wutgruppen' genannt wurden, vernetzt. Als dann die Steuer beschlossen wurde, ist es hochgegangen", so Kauffmann. Was oft vergessen werde, sei, dass auch viele alleinerziehende Frauen, beispielsweise Krankenschwestern und Kassiererinnen, Teil der Gelbwesten seien. "Es sind Menschen die man jeden Tag sieht, aber die leise sind und nicht beachtet werden" meint Kauffmann.

Politisch seien sie hingegen kaum einzuordnen. "Viele von ihnen haben nicht gewählt. Manche haben Le Pen gewählt, aber nicht die Mehrheit, und manche Macron, von dem sie sich dann im Stich gelassen fühlten." Die sogenannten "casseurs", die Zerstörer, die randalieren und gewalttätig sind, seien eine Teilgruppe aus dem links- und rechtsextremen Milieu. Trotzdem seien sie ein großes Problem, das ernst genommen werden müsse – und eine Gruppe die im Laufe der Proteste gewachsen sei.

Misstrauen gegenüber den französischen Medien

Das Vertrauen in Medien habe in Frankreich laut dem Medienbarometer Kantar einen Tiefpunkt erreicht. Laut einem Bericht des Aktivistennetzwerks Avaaz vertrauen die Gilets jaunes dem russischen Fernsehsender RT mehr als heimischen Medien. Der Sender wird oft als Auslandspropaganda-Sender von Wladimir Putin bezeichnet. Die Beiträge des RT zu den Demonstrationen wurden von Gelbwesten-Gruppen in den sozialen Netzwerken doppelt so oft angesehen wie die von fünf namhaften französischeren Medien zusammen.

International Journalism Festival

Kauffmann sieht den Ursprung darin teilweise in der grundsätzlichen Rebellion der Gelbwesten gegen die Eliten – neben Parlamentsmitgliedern und Intellektuellen würden dazu natürlich auch die Mainstreammedien gehören, die in den Augen vieler Gelbwesten als Marionetten der Eliten wahrgenommen werden.

Aber die französischen Medien hätten den Menschen, die jetzt als Gilets jaunes auf die Straßen gehen, auch zu wenig Aufmerksamkeit geschenkt. In Frankreich gebe es kaum noch lokale Zeitungen oder Journalisten, die sich in ländlichen Gebieten aufhalten. Betroffene vor Ort fühlten sich unsichtbar, von den Medien zurückgelassen und ohne eigene Stimme. Vor allem Fernsehsender hätten sich anfangs auch zu sehr auf die Ausschreitungen konzentriert und zu wenig auf die Hintergründe, da die Aufnahmen von Gewalt für gute Bilder gesorgt hätten, kritisiert Kauffmann.

Jetzt, wo die Gilets jaunes das Vertrauen in die Medien verloren hätten, sei es auch schwer, über sie zu berichten. Viele sehen sich als Individuen und lehnen deswegen jeden Versuch, ihre Probleme abzubilden, ab. Weil innerhalb der Bewegung so viele verschiedene Gruppen auftreten, könnten Medien auch zu jeder These jemanden finden so und ein Bild der Gelbwesten ganz nach ihrem Belieben zeichnen, meint Kauffmann.

Auf den Demonstrationen wurden Journalisten abgewiesen, niemand wollte in den Medien aufscheinen, und sie wurden teilweise sogar attackiert. "Das erste Mal waren unsere Kamerateams mit Bodyguards unterwegs," so Kauffmann. Die Gelbwesten hätten sich außerdem in die sozialen Netzwerke zurückgezogen und seien schwer medial zu erreichen.

"Ich glaube, Journalisten sollten ihre Fehler einsehen – wir haben Fehler gemacht, und wir versuchen es wiedergutzumachen. Aber wir sollten auch nicht als Sündenbocke herhalten. Medien sind nur ein Abbild der Gesellschaft, und wenn die Gesellschaft auseinanderklafft, was der Fall ist, wird man das auch in den Medien sehen. Wir können das nicht alleine lösen. Jede Institution muss ihren Teil übernehmen und Verantwortung tragen," meint Kauffmann.

Datenjournalismus und Polizeigewalt

David Dufresne, ein französischer Journalist, versucht das Vertrauen der Gelbwesten mit Datenjournalismus zurückzugewinnen und gegen die vielen gefakten Fotos in Videos im Netz vorzugehen. Er hat das datenjournalistische Rechercheprojekt "Allô Place Beauvau" gestartet, in dem er Fälle von Polizeigewalt, die online kursieren oder ihm zugeschickt werden, überprüft und die nachweisbaren in eine Datenbank aufnimmt. Jede Woche werden die Grafiken aktualisiert und mit den Ausschreibungen des Ministeriums verglichen. Für seine Arbeit hat Dufresne den französischen Journalismuspreis 2019 erhalten.

"Allô Place Beauvau" von Médiapart: 236 Verletzungen am Kopf, 13 Handverletzungen, 20 Verletzungen des Rückens, 50 Verletzungen an den Armen, 87 an den Beinen, 5 im Genitalbereich, 92 andere Verletzungen, 103 Einschüchterungen/ Beleidigungen/ Beschneidungen der Pressefreiheit.
Foto: alloplacebeauvau.mediapart.fr

606 Fälle konnte Dufresne bis jetzt nachweisen (Stand 9.4.2019). Das französische Innenministerium hat 2.200 Verletze, 8.700 Verhaftungen, 1.796 Verurteilungen, 1.428 Tränengaseinsätze, 1.500 verletzte Ordnungskräfte und einen Todesfall gemeldet (Stand 2.4.2019).

Alle müssen eine Stimme bekommen

Kauffmann ruft zu großer Vorsicht bei der Berichterstattung auf. Medien dürften bei der Aufregung nicht andere Interessengruppen vergessen und den Fehler wiederholen. Sie müssten aus ihren Filterblasen heraustreten und alle Lebensweisen und Denkschulen thematisieren.

"Und da ist wieder eine Gruppe, über die momentan niemand redet: die Bewohner der Pariser Vororte, der Banlieue, die 2005 für Unruhen gesorgt haben. Sie sind nicht Teil der Gilets jaunes, ihre Probleme sind andere: Arbeitslosigkeit und Diskriminierung am Arbeitsmarkt. Wir müssen aufpassen, dass wir sie nicht vergessen, bis es wieder zu spät ist."

Auch die Gegner der Gelbwesten würden den Medien zu wenig Aufmerksamkeit vorwerfen. Vor allem in Städten wie Bordeaux, in denen es zu großen Sachschäden gekommen ist, beschwerten sich jene, die Geschäfte hätten und jeden Samstag zusperren müssten, darüber, dass jetzt nur von den Gilets jaunes geredet werde.

Allgemein dürften sich Journalisten nicht mehr nur auf die Mehrheit ihrer Leser – höher gebildete Großstadtbewohner – konzentrieren und sollten auch über jene schreiben, die weniger oft oder gar nicht Zeitung lesen. "Unsere Leser die vielleicht nicht so interessiert daran sind, wie Arbeiter leben, müssen das auch einsehen – man sieht jetzt: Sie müssen sich dafür interessieren."

Von 280.000 Demonstranten zu 40.000

Den Rückgang der Demonstranten erklärt sich Kauffmann durch viele Faktoren. Zum einen mögen die rund zehn Milliarden Euro, die Macron als Sofortmaßnahme betroffenen Gruppen zugestanden hat, zur Beruhigung beigetragen haben. Auch die Inszenierung der großen nationalen Debatte ("grand débat national") hält sie für einen klugen Schritt, um die Wogen zu glätten, auch wenn wenige von den Gelbwesten teilgenommen hätten und es eher eine Parallelaktion gewesen sei. Viele Gelbwesten würden wohl abwarten, wie Macron mit den eingereichten Forderungen umgehen wird. Am 15. April wird die Regierung diese Entscheidungen präsentieren. Das sei eine heikle Situation, denn wenn die Erwartungen nicht erfüllt würden, würde die Wut und Frustration wieder ansteigen.

ARD über den "grand débat national", die Europawahlen und die Veränderung Macrons.
ARD

Bei vielen seien die Ressourcen fürs wöchentliche Demonstrieren erschöpft. Einige würden die Europawahlen als Stimmungsbild abwarten, und viele würden die Gewalt der verbliebenen aktiven Gelbwesten, die radikaler seien als anfänglich, nicht gutheißen und sich distanzieren. Im Dezember haben noch 72 Prozent die Gilet jaunes unterstützt – im März waren es nur noch 46 Prozent.

Zum Schluss des Interviews wird Kauffmann nachdenklich und ernst: "Aber ich weiß nicht, was passieren wird. Frankreich durchläuft eine Systemkrise. Macrons Wahl war die erste Station im Verlauf dieser Krise. Die Gelbwesten waren wahrscheinlich die zweite Station. Was wird als Drittes kommen? Ich weiß es nicht. Vielleicht etwas ganz Neues. Vielleicht werden wir es schaffen, eine Lösung zu finden, und wieder ein besseres Land werden. Ich weiß es nicht." (Emilia Garbsch, 15.4.2019)