Rigoberta Menchú im Juni 2016 in Graz, wo sie am "Women for Peace"-Kongress teilnahm.

Foto: Martin Lifka

Zwischen 220 bis 350 Millionen Angehörige sollen alle indigenen Völker weltweit haben. Darunter fallen die Aborigines in Australien oder die Indianer in Amerika. Im zentralamerikanischen Guatemala leben mehr als 20 indigene Volksgruppen – Rigoberta Menchú gehört den Quiché an. Den Großteil ihres Lebens kämpfte sie dort gegen die Militärdiktatur, für mehr Menschenrechte und mehr Rechte für die indigene Bevölkerung. Dafür erhielt sie mehrere internationale Preise, unter anderem 1992 den Friedensnobelpreis. Anlässlich des Internationalen Tages der indigenen Völker am 9. August sprach Menchú über die aktuelle Situation der Betroffenen und die politische Situation in ihrem Heimatland.

STANDARD: 1992 wurde Ihnen der Friedensnobelpreis für Ihren Einsatz für Menschenrechte, insbesondere der Rechte Indigener, verliehen. Was hat sich seitdem für diese getan?

Menchú: In den vergangenen zwanzig Jahren gab es viele Fortschritte, zum Beispiel im Bereich der Anerkennung der Rechte durch die Vereinten Nationen. Es wurde das Ständige Forum für indigene Angelegenheiten von der Uno eingerichtet, es gab sowohl ein Jahr der Rechte der Indigenen als auch ein Jahrzehnt der indigenen Völker. All dies war Teil des Kampfes, den viele von uns betrieben haben.

STANDARD: Mit welchen Problemen haben indigene Völker heute noch zu kämpfen?

Menchú: Sie überleben in vielen Teilen der Welt in den entlegensten Gebieten, wo viel Armut herrscht, sie an chronischer Unterernährung leiden und schlechten Zugang zu Bildung haben. In der Schule wird ihnen oft ihre Identität entzogen. Sie müssen sich eine andere Sprache aneignen, ihre Identität verstecken. Ich glaube aber fest daran, dass wir unsere eigene Identität weiterhin bewahren und praktizieren müssen. Außerdem sind Indigene Hauptbetroffene der Erderwärmung. Die Dürre betrifft unmittelbar die Natur, in der sie leben. Besorgniserregend ist auch das Thema des Landbesitzes. Sie werden weiterhin ihrer Länder beraubt, zudem wird Rohstoffabbau betrieben, bei dem zum Beispiel chemische Stoffe verwendet werden, die tödlich sind. Die Landfrage wird einer der großen Konfliktpunkte der nächsten Jahre sein, besonders in Guatemala.

STANDARD: Sie kandidierten 2007 als Präsidentschaftskandidatin, erhielten aber nur drei Prozent der Stimmen. Wie sieht es mit der politischen Partizipation Indigener momentan aus?

Menchú: Ich denke, dass es in den letzten Jahren viel Mut von Frauen gab. Im Falle Guatemalas vor allem der Maya-Frauen. Wir haben versucht, die öffentlichen Institutionen zu durchdringen und an der Politik aktiv teilzunehmen. Ich habe ja auch selbst als Präsidentschaftskandidatin kandidiert und mit meinen MitstreiterInnen gezeigt, dass es sehr wohl möglich ist, dass Indigene in Guatemala eine Partei gründen können. Im gesellschaftlichen Bewusstsein haben Zusammenschlüsse wie die "Organisation indigener Frauen" an Stärke gewonnen. Vor zwanzig Jahren gab es noch keine Organisation indigener Frauen oder allgemein indigener Persönlichkeiten, die jetzt besonders in Lateinamerika hervorstechen.

STANDARD: Sie kämpfen seit Jahren gegen die Straflosigkeit der Verbrechen, die während des Bürgerkriegs von 1960 bis 1996 in Guatemala begangen wurden. Welche Erfolge gab es bis dato?

Menchú: Es ist wichtig, dass den Opfern des Krieges Gerechtigkeit widerfährt. Ich habe den Kampf gegen die Straflosigkeit vor vielen Jahren begonnen. Nie habe ich dem Rassismus, der Folter, dem erzwungenen Verschwindenlassen oder der Stigmatisierung von Frauen nachgegeben. Ein großer Erfolg in Guatemala waren Anfang dieses Jahres die Urteile im Fall Sepur Zarco (1982 wurden 15 indigene Frauen in das Militärcamp Sepur Zarco verschleppt, dort versklavt und sexuell ausgebeutet. Zwei Verantwortliche, Oberst Reyes Girón und Kommissar Valdés Asij, wurden im Februar 2016 zu je 120 und 240 Jahren Gefängnisstrafe verurteilt, Anm.). Es war das erste Mal in Lateinamerika, dass sexuelle Gewalt als Kriegswaffe verurteilt wurde. Das Urteil gegen die Militärs nach über dreißig Jahren ist historisch.

STANDARD: Flüchtlinge und Migrationsbewegungen sind derzeit fast täglich als Thema in den europäischen Medien präsent. Nach der Ermordung einiger Ihrer Angehörigen, die wie Sie auch in der Landarbeitervereinigung aktiv waren, und zunehmenden Drohungen flohen Sie 1981 nach Mexiko. Wie haben Sie die Jahre im Exil geprägt?

Menchú: Nachdem ich Guatemala verließ, hatte ich die Möglichkeit, viele andere Kulturen und Völker kennenzulernen, aber auch deren Probleme. Die hatten Ähnlichkeiten mit jenen in Guatemala, zum Beispiel sind die indigenen Völker Lateinamerikas und anderer Kontinente mit denselben Schwierigkeiten und der Verweigerung ihrer Rechte konfrontiert. Das Exil hat mich auch gelehrt, nie aufzugeben, und ich habe viel Solidarität erfahren. Migranten sind ein Teil unseres universellen Lebens. Nicht nur in Guatemala oder Amerika.

STANDARD: Derzeit leben Sie wieder in Guatemala. Wie ist die aktuelle politische Situation in Ihrem Heimatland?

Menchú: Viele Guatemalteken sind als politische Gefangene in Haft. Ein Beispiel dafür ist Rigoberto Juárez, ein Anführer der Campesinos-Bewegung (Landlose, die keinen eigenen Grundbesitz haben und ausschließlich auf gepachtetem Land arbeiten, Anmerkung). Die Bauernschaft wird weiterhin kriminalisiert und terrorisiert, weil sie sich wie in diesem Fall gegen den Bau eines Wasserkraftwerks wehrt. Hier ist das Militär involviert, und es herrscht Straflosigkeit. Straflosigkeit heißt in diesem Fall, dass es kein Gesetz für alle gibt, sondern nur den Schutz der Interessen der Rohstoffindustrie. Guatemala ist ein korruptes Land. Es gibt viele Drohungen und Einschüchterungen. Die Menschen können so die Angst der Vergangenheit nicht überwinden. (Milena Österreicher, 8.8.2016)