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Es gibt nur zwei Dinge, die zählen: die Liebe und die Musik von Duke Ellington: Boris Vian.

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Je suis en route, ich lasse Sacré-Coeur hinter mir, spüre die Blicke der Soldaten in meinem Rücken, bleibe stehen. Für ein Gefühl der Sicherheit sollen sie sorgen? Schusssichere Westen, Maschinenpistolen im Anschlag, "l'opération Sentinelle" nennen sie das hier seit Januar 2015.

Ein Chanson kommt mir in den Sinn, Le déserteur von Boris Vian, 1954 geschrieben, einen Skandal löste es aus. Eine Aufforderung zur Desertion konnte die Grande Nation nicht brauchen, gerade hatte sie in Indochina ihr Waterloo erlebt und war in den Algerienkrieg gezogen.

Bis Kriegsende 1962 durfte das Chanson nicht ausgestrahlt werden, zugleich wurde es weit über Frankreichs Grenzen hinaus zum Protestlied einer Generation. Von Joan Baez interpretiert, von Wolf Biermann auch, in zahlreiche Sprachen übersetzt, bis ins Schweizerdeutsche schaffte es Vian, Der Dienschtverweigerer von Franz Hohler zeugt davon.

Nicht von ungefähr denke ich an Vian, er wohnte einen Spaziergang entfernt von der Basilika Sacré-Coeur, in der Cité Véron, unweit des Moulin Rouge. Einer seiner Nachbarn war der populärste französische Lyriker jener Zeit: Jacques Prévert. Stets eine Zigarette im Mundwinkel, so sah ein Mann des Volkes damals aus.

Probleme mit Breton

Prévert, 1900 in einem Vorort von Paris geboren, verlässt mit 15 die Schule, aus Langeweile, wie er gerne betont, und verdingt sich auf Pariser Großmärkten als Kistenstapler. Anfang der 20er-Jahre macht er Bekanntschaft mit Yves Tanguy, befreundet sich später mit Raymond Queneau und stößt zur Gruppe der Surrealisten.

Nicht lange hält es ihn dort, das autoritäre Gehabe von André Breton ist ihm zuwider, Prévert gründet eine eigene Gruppe. Zunächst zieht es ihn zu Film und Theater, er entwirft Dialoge, Szenen, Drehbücher, arbeitet mit renommierten Regisseuren zusammen. Dann, 1946, publiziert er den schmalen Gedichtband Paroles – und wird zum Star.

Viele Gedichte werden vertont, von Größen wie Yves Montand und Juliette Gréco zum Besten gegeben, sie singen von Liebe, Glück und anderen Katastrophen des Lebens. Volksnah will er sein, antikonformistisch aber auch, gegen Militär und Staat wettert Prévert, die Kirche hasst er ohnedies. Sein Paternoster eröffnet mit den Zeilen: "Vater unser, der du bist im Himmel, bleibe dort."

Ich werde auf eure Gräber spucken

Im Erscheinungsjahr der Paroles sorgt ein weiteres Buch für Furore, ein Roman des bis dahin völlig unbekannten Amerikaners Vernon Sullivan. Als Übersetzer von J'irais cracher sur vos tombes (Ich werde auf eure Gräber spucken) gibt sich der zu jener Zeit gefeierte Jazztrompeter, aber wenig erfolgreiche Autor Boris Vian aus.

Der Roman zieht alle Register der damals gängigen amerikanischen Kriminalliteratur, wie er jedoch erzählt wird, indem er vordergründig Sex und Gewalt offeriert, um in galligem Duktus rassistische Vorurteile vor Augen zu führen, das sorgt für einen Skandal. Und in dessen Mittelpunkt befindet sich, gut ein Jahr nach Veröffentlichung des Buchs: Boris Vian. Mittlerweile ist sein Pseudonym Sullivan aufgeflogen, ein Prozess gegen ihn wird angestrengt, sein Roman schließlich als "jugendgefährdendes Schrifttum" eingestuft und verboten.

Finanziell bedeutet das Verbot für den 26-jährigen Vian nahezu den Ruin. Sein ebenfalls 1946 verfasster Roman Der Schaum der Tage wird infolge des Verdikts kaum wahrgenommen, der Verlag wendet sich von ihm ab. Da helfen auch Interventionen von Jaques Prévert nicht, und dass Raymond Queneau Schaum der Tage als "den ergreifendsten zeitgenössischen Liebesroman" bezeichnet, verhallt ungehört. Der Erfolg kommt erst posthum. Heute zählt Vians surreale Liebesgeschichte zu den 100 wichtigsten Romanen Frankreichs.

Es zählen nur zwei Dinge

Es gebe nur zwei Dinge, die zählten, schreibt Vian in der Vorrede zu Der Schaum der Tage: die Liebe und die Musik von Duke Ellington. Alles andere möge verschwinden. Dass auch sein Roman nicht verschwand, verdankt sich der Tatsache, dass Vian – stets die Wirklichkeit vor Augen – nun wirklich ein Antikonformist war, der Reales und Erfundenes, Poesie und Prosa ineinander verschmolz, wie kein anderer es je vermochte. Sein Roman ist die Antwort auf ein aus den Fugen geratenes Europa, das sich an moralischen Grundsätzen ergötzt, als hätte es die zwei Weltkriege nicht gegeben. Vians Trumpf ist die Narretei, was er aber schreibt, ist weit weniger verrückt als das, was wir für real halten.

Immer noch die Blicke in meinem Rücken, mein Herumstehen macht mich verdächtig. Das Kino, in dem Boris Vian, gerade einmal 39 Jahre alt, am 23. Juni 1959 starb, befand sich einst in der Rue Marbeuf im achten Arrondissement. Vian hatte sich dort die Filmpremiere seines Erstlings Ich werde auf eure Gräber spucken ansehen wollen. Je suis en route. (Christoph W. Bauer, 2.7.2016)