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Granateinschläge in nächster Nähe hinterlassen psychische und physische Symptome.

Foto: APA/Jens Büttner

Bevor Josef R. 1914 mit den Tiroler Kaiserjägern einrückte, schien er zumindest völlig gesund zu sein. Vier Jahre und einen Weltkrieg später wurde ein stotternder 26-Jähriger mit einem unkontrollierbaren Zittern in den Beinen beim Militärarzt in Innsbruck vorstellig. R. war einer von vielen: Symptome wie Zittern, Lähmungserscheinungen, Stummheit, Sprachstörungen und Angstattacken breiteten sich unter den Soldaten in den Schützengräben nahezu seuchenartig aus und stellten die Mediziner vor ein Rätsel.

"Der Erste Weltkrieg war ein so unglaublich brutales, hochtechnisiertes, unmenschliches Erlebnis für viele dieser Soldaten, dass ihre Nerven so stark darauf reagiert haben", erklärt der Medizinhistoriker Wolfgang U. Eckart von der Universität Heidelberg. Noch viel stärker als bei anderen Kriegen in der Geschichte hatten die Soldaten, die oft monatelang in den Gräben ausharren mussten, im Ersten Weltkrieg nicht die Möglichkeit zur Flucht oder zum Angriff. "Sie hatten überhaupt keine Chance, ihren natürlichen Bedürfnissen in einer Angriffssituation nachzugehen."  Eckart schätzt, dass 10 bis 15 Prozent der Soldaten an der Front auf schockierende Ereignisse mit dem "Kriegszittern" reagierten. Alleine in Deutschland geht er von 200.000 bis 300.000 Fällen aus, und die Zahlen für Österreich-Ungarn dürften ähnlich gewesen sein.

Trauma von Granateinschlägen

Die Kriegsneurose verlief laut Eckart individuell höchst unterschiedlich. Gemeinsam hatten aber alle Betroffenen, dass es - häufig durch Granateinschläge - zu einem akuten Psychotrauma kam. Die betroffenen Soldaten blieben dabei körperlich aber meist unverletzt.

Neben physischen Symptomen, wie Zittern, traten auch psychische Beschwerden wie Bindungsverlust, Alkoholismus, Angstattacken, eine verstärkte Drogenneigung oder gewalttätiges Verhalten auf. Auch Jahre später reagiert der Körper bei einem Trigger: "Wenn ein bestimmtes Geräusch auftritt, kommt die Erinnerung an ein solches Ereignis zurück, ohne dass das den Betroffenen bewusst wird", so Eckart.

Bis heute wisse die Wissenschaft nicht, warum manche Menschen auf traumatisierende Ereignisse so reagieren. Während des Ersten Weltkriegs wurden die psychischen Probleme der Soldaten aber als Willensschwäche diskutiert: "Man unterstellte ihnen, dass sie nicht willens seien, ihr Leben für das Vaterland aufs Spiel zu setzen und dass ihr Überlebenswille größer sei, als der Wille, sich für die gemeinsame Aufgabe einzusetzen", sagt Eckart. Das hatte fatale Folgen: Die Therapien der an die Front gerufenen Psychiater seien darauf ausgelegt gewesen, den Willen der Patienten zu brechen - und die Soldaten damit wieder für den Krieg bereit zu machen.

Brutale Behandlungsmethoden

Gängige Behandlungsmethoden reichten von Anschreien über Hynpose, Scheinoperationen unter Narkose, Zwangsexerzieren bis hin zu Elektrotherapie an den betroffenen Stellen und den Genitalien. "Diese Behandlungsmethoden trugen den Charakter einer zweiten Traumatisierung", so Eckart. Man habe nicht versucht, den Soldaten beizubringen, mit ihrem Schrecken umzugehen, sondern man versuchte, ihnen diesen auszutreiben. Das Kriegszittern trat bei Soldaten aller am Krieg beteiligten Nationen auf, der Umgang mit ihnen unterschied sich aber: Während man in Deutschland und Österreich "psychiatrische Maßnahmen, die einer Bestrafung gleichkamen" ergriff, gab es bei Franzosen und Italienern viele standesrechtliche Erschießungen, denn: Wer nicht mehr kämpfen konnte, galt als Kriegsdienstverweigerer.

Soldaten, die psychisch dem Frontgeschehen nicht mehr gewachsen waren, mussten sich oft auch vonseiten der Ärzte Vorwürfe gefallen lassen, dass sie nur simulieren würden. Man ging davon aus, dass sie sich bewusst in die Krankheit flüchteten, um in die Heimat zurückkehren zu können.

Auch Hysterie wurde Betroffenen unterstellt: "Dieser Vorwurf ist während des Ersten Weltkrieges sehr stark diskriminierend aufzufassen", so Eckart. Hysterie wurde damals nämlich noch von vielen Ärzten und in der Öffentlichkeit als eine reine "Frauenkrankheit" verstanden, von der man annahm, dass sie vom Uterus ausging. "Wenn man Männern vorwarf, dass sie hysterisch, also fraulich, reagierten, dann traumatisierte man sie auf eine weitere Weise", so Eckart.

"Gescheiterte Biographien"

Die psychisch beeinträchtigten Soldaten, die nach dem Krieg nachhause zurückkehrten, wurden laut Eckart von der Gesellschaft zu Versagern und Rentenbetrügern erklärt - und das, obwohl viele von ihnen nach dem Krieg vor dem Nichts standen.

Josef R. war einer von ihnen: Er wurde im Sommer 1918 einer Elektrotherapie unterzogen, und schließlich aufgrund mangelnder Behandlungserfolge ohne Anspruch auf Kompensationszahlungen aus dem Militärdienst entlassen. Die 24-jährige Geschichtsstudentin Maria Küng stieß im Rahmen von Recherchen für ihre Diplomarbeit über Kriegsneurosen im Tiroler Landesarchiv auf diese und zahlreiche andere Akten mit haarsträubenden Diagnosen: "Die behandelnden Ärzte sahen die Ursache für die Symptome nicht im Krieg, sondern in 'seiner konstitutionell psychopathischen Minderwertigkeit", fasst sie zusammen.

Wie R. mit der Diagnose umging, ist nicht bekannt. "Aber diese Leben verliefen nicht mehr in geordneten Bahnen", weiß Eckart. Viele Heimkehrer seien nicht mehr arbeitsfähig oder gewalttätig gewesen. "Das sind durch die Brutalität der Krieges, aber auch durch die Fehlbehandlung der Ärzte gebrochene Biographien", weiß Eckart.

Erkrankung im Kontext sehen

Gänzlich neu war das Krankheitsbild der Kriegsneurose aber damals nicht, wie Eckart erklärt: Ähnliche Symptome kannte man zum Beispiel auch von Überlebenden von Eisenbahnunfällen aus dem 19. Jahrhundert. Heute nennt man psychische Traumata, die nach dem Krieg auftreten, posttraumatische Belastungsstörung.

Ob es sich dabei um das handelt, was man im Ersten Weltkrieg als Kriegszittern oder Kriegsneurose kannte, will Eckart so nicht beantworten. Es gäbe viele Indikatoren dafür, dass die Reaktionsweisen der Betroffenen ähnlich seien, aber: "Medizinhistoriker tun sich mit retrograden Diagnosen schwer." Jede Erkrankungsform habe ihren gesellschaftlichen, politischen und kulturellen Kontext. Man könne zwar davon ausgehen, dass die gehirnphysiologischen Vorgänge bei Schockreaktionen heute gleich funktionieren, wie vor hundert Jahren, müsse aber Krankheiten in ihrem Kontext verstehen: "Jede Zeit hat ihre eigene Schockneurose."

Denn Symptome können sich ändern. Der Zweite Weltkrieg zum Beispiel brachte eine neue Form des Krieges: Die Soldaten saßen nicht mehr in Gräben fest, sondern waren mehr in Bewegung: "Da traten dann auch andere Störungen auf", so Eckart, der im März zum Thema "Medizin und Krieg" ein Buch veröffentlicht.

Die Heilungschancen nach Schockerlebnissen sind heute laut Eckart gut: Dazu gebe es verschiedene Ansätze, zum Beispiel den psycho-traumatologischen Ansatz des "Eye Movement Desensitization and Reprocessing", wo mit Augenbewegungen die Angst vor traumatischen Erinnerungen reduziert wird. In heutigen Kriegssituationen würden Soldaten sehr früh therapiert und mit bestimmten Methoden das traumatisierende Ereignis noch einmal durchgegangen. "Man versucht, dieses Erlebnis wachzuhalten und es nicht ins Unterbewusstsein absinken zu lassen", so Eckart. Ziel sollte sein, das schockierende Ereignis zum Teil der Biographie zu machen: "Damit gibt man Menschen die Chance, mit diesem Teil ihres Lebens umzugehen, und sich nicht überraschen zu lassen." (Franziska Zoidl, derStandard.at, 10.2.2014)