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Die Unabhängigkeit des öffentlich-rechtlichen Rundfunks besser sichern, indem man mehr dem Zufall vertraut? – Alles ist möglich, sagt Armin Wolf. 

Foto: dapd; Montage: Friesenbichler

Gut ein Jahr ist es her, dass uns Kanzler und Vizekanzler eine Reform des ORF versprochen haben. Seither wurde eine Arbeitsgruppe beim Medienstaatssekretär installiert, es gab ein paar Treffen und Parteien-Gespräche – und passiert ist genau: nichts. Mittlerweile sagen die Regierungsspitzen auch ganz offen, dass es mit dem neuen ORF-Gesetz vor der Nationalratswahl wohl nichts mehr wird.

Der entscheidende Streitpunkt ist die Neukonstruktion des Stiftungsrats, des ORF-Aufsichtsrats also, der den Generaldirektor und die restlichen Direktoren bestellt, Programmschema und Budget beschließt und die Geschäftsführung laufend kontrolliert. Ein mächtiges Gremium und genau jenes, das letztlich den Zugriff der Politik auf den öffentlich-rechtlichen Rundfunk ermöglicht. Denn bestellt werden seine derzeit 35 Mitglieder von der Bundesregierung (9), von den Bundesländern (9), von den Parlamentsparteien (6), vom ORF-Publikumsrat (6) und vom ORF-Betriebsrat (5).

Zwar dürfen keine aktiven Politiker oder Parteiangestellte darunter sein, trotzdem wird das ORF-Kontrollorgan von sogenannten "Freundeskreisen"  der Parteien beherrscht, in denen nahezu alle Stiftungsräte organisiert sind. Vor jeder Sitzung treffen sich diese Freundeskreise, meist gemeinsam mit dem Klubchef oder dem Mediensprecher "ihrer"  Partei, abgestimmt wird praktisch immer streng nach Fraktionslinie. Politische Tauschhändel und Erpressungsversuche sind in das System quasi eingebaut. Dort, wo es politische Einflussnahme auf den ORF gibt, funktioniert sie über diese Konstruktion des Stiftungsrats. Denn das wichtigste Aufsichtsgremium des ORF wird von genau jenen Akteuren (Regierung und Parteien) bestellt, über die der öffentlich-rechtliche Rundfunk kritisch berichten soll. Der Interessenkonflikt ist systemimmanent.

Einig sind sich alle nur darüber, dass der Stiftungsrat derzeit zu groß ist und deutlich verkleinert gehört. Als künftige Größe wird meist zehn plus fünf genannt, wobei die fünf Vertreter der Belegschaft sein sollen (wie in AGs ein Drittel des Aufsichtsrats). Aber wer nominiert die zehn? Das ist die ganz entscheidende Frage.

Erst vor wenigen Tagen schlug der Kanzler vor, den Stiftungsrat "wie den Verfassungsgerichtshof"  durch Regierung und Parlament zu bestellen. Das Ergebnis ist am Verfassungsgericht zu besichtigen: ein Roter, ein Schwarzer, ein Roter usw. Mit dem Unterschied, dass für Verfassungsrichter zumindest strengste Qualifikationskriterien gelten und sie unabsetzbar – und damit unabhängiger – sind. Die Grünen schlagen einen "Konvent"  vor, der die Stiftungsräte auswählt. Aber wer wählt dann den Konvent aus? Der Hauptausschuss des Nationalrates könnte mit Zweidrittelmehrheit die Stiftungsräte bestellen, lautet ein anderer Vorschlag. Die politische Packelei dabei kann man sich schon im Vorhinein aufzeichnen. Der "überparteiliche"  Bundespräsident ernennt die Räte? Ja – aber was, wenn der Bundespräsident nicht überparteilich agiert?

Und hier kommt nun das Los ins Spiel: Natürlich kann man die Plätze im Stiftungsrat nicht verlosen. Gebraucht werden dort zehn hochqualifizierte, erfahrene Aufsichtsräte mit Wirtschafts- und Medienkompetenz. Diese zehn via Lotterie zu suchen wäre ähnlich absurd, wie die Mandate im Nationalrat zu verlosen. Aber in der aktuellen Ausgabe der deutschen Zeitschrift für Politikwissenschaft stellt der Politologe Hubertus Buchstein ein hochspannendes Konzept vor: durch Los bestimmte sogenannte "Citizen Assemblies".[1] Eine solche Bürgerversammlung ist ein "Gremium, das sich aus 100 bis 200 ausgelosten Bürgern zusammensetzt, einen zeitlich begrenzten und eindeutig definierten Arbeitsauftrag erhält und dazu einen Entscheidungsvorschlag erarbeitet" .

Es gibt politische Fragen, argumentiert Buchstein, die idealerweise weder vom Parlament noch durch einen Volksentscheid gelöst werden können – weil sie für ein Referendum zu komplex sind und weil die Parlamentarier einen Interessenkonflikt haben. Als Beispiele nennt er die Gestaltung von Politikergehältern, die Parteienfinanzierung und vor allem das Wahlrecht (auch so ein Thema, bei dem man sich hierzulande seit Jahrzehnten auf keine grundlegende Reform einigen kann). Und als prototypisches Beispiel kann man da die Kontrolle des öffentlich-rechtlichen Rundfunks ergänzen. Die politischen Parteien sind hier in einem offensichtlichen Konflikt – sie sollen ein Gremium schaffen, das ihren Einfluss auf den unabhängigen Rundfunk möglichst begrenzt, während sie jedes Interesse an möglichst großem Einfluss auf eben diesen Rundfunk haben.

Solche Bürgerversammlungen sind kein theoretisches Gedankenexperiment, sondern haben sich bereits in der Praxis bewährt: zwischen 2004 und 2007 haben "Citizen Assemblies"  in den Niederlanden sowie in den kanadischen Provinzen Ontario und British Columbia Vorschläge für ein neues Wahlrecht ausgearbeitet. Die Mitglieder der Bürgerversammlungen wurden – wie Schöffen oder Geschworene für Gerichtsverfahren – rein zufällig per Los aus dem Wählerverzeichnis ausgewählt. Genauso wie bei Schöffen spielte es keine Rolle, ob sie das Thema interessierte oder ob sie einschlägig vorgebildet waren, sie konnten die Auswahl auch nur mit triftigen Gründen ablehnen. Sie trafen sich regelmäßig über mehrere Monate hinweg, mit einer durchschnittlichen Beteiligung von mehr als 90 Prozent. Für den Aufwand gab es eine finanzielle Entschädigung. Sie luden Experten vor, ließen sich detailliert zu Einzelfragen informieren und bildeten sich in langen Diskussionen ihre Meinungen zum Thema – und am Ende legten die via Lotterie ausgewählten Bürger elaborierte Konzepte für ein neues Wahlrecht vor. "Im Ergebnis können sie als Musterbeispiele für gelingende deliberative Demokratie bewertet werden" , bilanziert Politologe Buchstein die wissenschaftlichen Analysen des Experiments.

Wäre das nicht ein möglicher Ausweg für den völlig verfahrenen Dauerkonflikt um eine ORF-Reform? Gerade im Parteienstreit um einen Rundfunk, der eben nicht den Parteien gehört, sondern der Öffentlichkeit? Warum nicht eine solche Bürgerversammlung einberufen, 100 oder 150 Österreicher, die zufällig aus der Wählerevidenz ausgelost werden – oder, noch besser: aus dem Verzeichnis der Gebührenzahler? Schließlich sind sie diejenigen, für die der öffentliche Rundfunk da ist und denen er letztlich gehört. Diese Bürgerversammlung bekommt die konkrete Aufgabe, einen neuen Modus für die Aufsicht über den ORF zu erarbeiten, den das Parlament dann verpflichtend gesetzlich verankert. Das Ergebnis könnte natürlich auch ein völlig neues Konzept sein, das mit dem heutigen Stiftungsrat, kleiner oder größer, nichts mehr gemein hat.

Oder man formuliert die Aufgabenstellung für die Bürgerversammlung weniger umfassend und lässt sie nur jene Kriterien festlegen, die künftige ORF-Stiftungsräte erfüllen müssen. Es folgt eine öffentliche Ausschreibung und die Bürgerversammlung wählt aus den Bewerbern die ersten zehn Stiftungsräte aus. Ab dann könnte sich das Gremium – ähnlich dem Aufsichtsrat der ÖIAG – aus sich selbst heraus erneuern: Wenn ein Mandat frei wird, nominieren die neun übrigen Stiftungsräte ohne Einflussmöglichkeit und Druck von außen ein neues Mitglied. (Das Bestellungsverfahren könnte auch noch mit einer Angelobung der Stiftungsräte durch den Bundespräsidenten – samt Vetomöglichkeit –  abgeschlossen werden.)

Ich weiß, das klingt auf den ersten Blick gewagt, aber die Praxistests in Kanada und den Niederlanden haben gezeigt, dass solche Bürgerversammlungen funktionieren; dass per Zufall ausgewählte Laien detaillierte, sinnvolle und überzeugende Problemlösungen finden können, die nicht von Partikular- und Parteiinteressen geprägt sind.

Besonders gewagt klingt so ein Vorschlag natürlich in einer strukturkonservativen Gremialdemokratie wie Österreich. Aber spätestens seit der Kreisky'schen ORF-Reform von 1974 erleben wir, wie Generationen von Parteipolitikern nicht willens waren und sind, den ORF in die wirkliche politische Unabhängigkeit zu entlassen. Was in anderen Ländern (siehe BBC) zur politischen Kultur gehört – sich als Partei nicht in den öf­fentlichen Rundfunk einzumischen –, gilt in Österreich als naive Spinnerei weltfremder Idealisten. Und auch in der aktuellen Debatte liegt bisher kein praktikabler Vorschlag auf dem Tisch, der den ORF dem Zugriff der Parteien entziehen würde und der auch nur annähernd mehrheitsfähig ist.

Weil aber für den öffentlichen Rundfunk (außer seiner Finanzierung) nichts so wichtig ist wie seine Unabhängigkeit und weil die Zuseher (die ihn finanzieren) ein Recht auf einen wirklich unabhängigen ORF haben, wäre es den Versuch doch wert. Lasst das Los entscheiden. Alles ist möglich. (Armin Wolf, DER STANDARD, 4./5. Mai 2013)