Eigentlich wollte ich nie wieder hingehen. Das hatte ich mir vor ein paar Jahren vorgenommen. Damals hatte ich erlebt, wie Herr K. einen Vater mit Kind hinauskomplimentiert hatte. Draußen goss es. Herr K. war unerbittlich: Schließlich klebten an der Eingangstür drei Verbots-Kleber. Einer mit Handy. Einer mit Eisstanitzel. Und einer mit Kleinkind. Fünf Minuten später stand ich ebenfalls im Regen der Otto Bauer Gasse vor dem Café Jelinek. Mit mir ein paar andere Leute.

Das Blöde am Jelinek ist aber, dass es das schönste Kaffeehaus Wiens ist. Da wären einmal die K.'s. selbst. In ihren weißen Arbeitsmänteln tun sie gar nicht so, als solle der Gast glauben, er habe es mit Kellnern zu tun: Wer sich ins Jelinek begibt, begibt sich in die Obhut der Familie K. Liebevoll, bemutternd, fürsorglich. Man geht nicht ins Café, sondern nach Hause. Schon das Ambiente hat etwas heimeliges an sich. Aber dazu später. Denn diese Obsorge kann auch traumatisierend sein. "Sie essen jetzt einmal eine Suppe. Über den Marillenkuchen reden wir später." Hilfe. Der Tonfall sagte, dass Widerspruch – von Widerstand ganz zu schweigen – zwecklos war. Komischerweise gehört Frau K. zu jenen Leuten, denen man nicht böse sein kann. Ich habe natürlich aufgegessen. (Einmal hat Frau K. meine Mutter dafür gerügt, zuviel Trinkgeld geben zu wollen. Mit sanfter, gekränkter Stimme. "Also wirklich, das ist fast schon unvernünftig. Man rundet auf die nächste Fünferstelle auf, nicht auf den nächsten Zehner." Mutter war fassungslos. Es war zum Niederknien.)

Der Ofen

Dann wäre da noch das Interieur. Neben der wohligen Abgeschabtheit der Bänke, Wände und Tische wäre da noch der Ofen. Vor allem der Ofen. Ein Freund meinte einmal, dieser silbrig glänzende, fast glühende Holzbrenner mitten im Lokal gebe ihm immer, wenn er an verschneiten Wintertagen mit einem Schwung kalter Luft und ein paar verirrten Schneeflocken im Schlepptau hier einfalle, das Gefühl, im "Kurier des Zaren" aufzutreten – und jedes Mal vergesse er, dass der Tisch neben dem Ofen aus gutem Grund im Winter meist unbesetzt ist. Ein, zwei Jahre nach meiner individuellen Sanktionsverhängung hat sich ein Leser – anderswo - über ein identes Rauswurferlebnis beschwert. Am Telefon erklärte Herr K., der Kleber sei kein Akt der Kinderfeindlichkeit, sondern der Kinderfreundlichkeit: Verrauchte Kaffeehausluft sei nichts für kleine Lungen. Und Eltern sollten mit ihrem Nachwuchs gefälligst die Zeit im Freien verbringen. Hat was. Ein bisserl. Aber ins Jelinek hätten mich weiterhin keine zehn Pferde gebracht.

Die Augen der Frau K.

Irgendwie sind wir dann vor ein paar Wochen dort gelandet. Vermutlich, weil A. es satt hatte, jeden Tag hier vorbei zu gehen und sich alte Geschichten anzuhören. Drinnen war es wie immer. Der Ofen glühte. Die K.'s trugen weiße Mäntel. Und zuerst saßen wir zehn Minuten unbeachtet da. Kann passieren. Kein Kellner hat seine Augen immer und überall. Wider bessere Ahnung versuchte ich, an der Bar zu bestellen. So bekam A. einen authentischen Eindruck von der mütterlich-belehrenden, gekränkt-autoritären Art der Frau K.: Sie übersehe prinzipiell niemanden und wer im Kaffeehaus ewig sitzen bleiben könne, um alle Zeitungen der Welt zu lesen, brauche nicht hektisch zu werden. Frau K.'s Stimme war so sanft und gekränkt wie immer. Ihre Augen ruhten mit jenem Vorwurf auf uns, der einen hilflos macht: Ich weiß, ihr könnt nichts dafür, dass ihr so seid, wie ihr seid, sagten die Augen der Frau K. Ich leide unter Eurer Art, sagten sie, aber ich vergebe Euch, weil ich dafür geboren bin, denen zu vergeben, die nichts dafür können, dass sie sind wie sie sind und es wohl nie besser lernen werden. Wir schämten uns. Ehrlich und zutiefst. Aber insgeheim war ich auch sehr zufrieden: A. war sichtlich beeindruckt. Als wir gingen kam Frau K. noch einmal an den Tisch. Um sich zu entschuldigen. Sie hätte nicht so unwirsch sein dürfen. Weil sie uns vielleicht doch übersehen hätte. Sie und ihr Mann, erklärte sie, müssten das Lokal doch alleine führen. Und würden langsam alt. Ich begann, mir ernsthaft Sorgen zu machen. Als wir gingen, wollte ich A. den Anti-Kinder-Sticker zeigen. Aber der ist nicht mehr da.

NACHLESE

--> Systemunterhaltung
--> Thermendesaster
--> Grabsteinland
--> Laxenburger Herbst
--> Der Zehenmann
--> Eine Straßenbahnfahrt
--> Kaderkaraoke
--> Die Chefsekretärin der Pressestelle lädt ein"
--> Eingetragene Marke "Fernando"
--> Kreativität braucht ein Büro
--> Das Einzelsockenmysterium
--> Abstumpfen im Hochwasser
--> Simmering unter Sternen
--> Gruß an die zugestiegenen Fahrgäste
--> Von oben
--> Trägheit und Minigolf
--> Schaumgummikünstlers Assistent
--> Starbucks ist super
--> Im Swingerclub
--> Mit dem Twingo gegen die Monotonie
--> Im Museumsfreibad
--> Watschen für Othmar
--> Weitere Stadtgeschichten...